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Vituelle Gemeinschaften

Kapitel 5: MUDs und alternative Identitäten

von Howard Rheingold

Addisson-Wesley, 1994, ISBN 3-89319-671-4

Im Schloß ihres Erzfeindes kriecht Buffy Mojo, deine alternative Identität, durch das Tunnellabyrinth des Verließes. Die Wände sind feucht, das Licht ist schummrig, die Ruhe unheilverkündend. Buffys einziger Verbündeter ist durch einen Fluch in eine Kröte verwandelt worden. Deine Hände auf der Tastatur sind feucht; dein Herz schlägt laut. Wenn Buffy hier unten auf den falschen Darsteller trifft, bedeutet dies deinen Tod. Hunderte Stunden Arbeit, die du in die Ausführung ihres Auftrags gesteckt hast, würden verschwendet sein. Doch es steht mehr auf dem Spiel, als nur das Leben deines imaginären Darstellers, denn Buffys Schicksal beeinflußt die virtuellen Leben anderer, die Freunde aus der wirklichen Welt repräsentieren. Du befindest dich in einem MUD, gemeinsam mit weltweit Zehntausenden anderer, die im Netz eine Phantasie-Welt errichten.

Willkommen in der wilden Ecke der Cyberspace-Kultur, wo das Magische real und die Identität fließend ist. MUD (engl. mud = Schlamm) ist die Abkürzung von Multi-User Dungeon (Multi-User-Verließ) - MUDs sind imaginäre Welten, die in Datenbanken errichtet werden. Wörter und Programmiersprachen werden eingesetzt, um Melodramen zu improvisieren, Welten und all ihre Objekte aufzubauen, Rätsel zu lösen, Vergnügungen und Werkzeuge zu erfinden, um Ansehen und Macht zu ringen, Wissen zu erwerben, Rache zu üben und sich seinen Trieben, gewalttätigen Impulsen und seiner Habgier hinzugeben. In einigen MUDs kannst du körperlosen Sex treiben, in wiederum anderen sogar morden - oder sterben.

Mit einem Computer einer englischen Universität fing 1980 alles an. Im Juli 1992 gab es im Internet mehr als 170 verschiedene MultiUser-Spiele in neunzehn verschiedenen welten-errichtenden Sprachen. Die beliebtesten Welten haben Tausende von Benutzer n. Richard Bartle, einer der Väter des MUDdens schätzte 1992 die Zahl der weltweiten ehemaligen und aktiven MUDder auf einhunderttausend. Der MUDForscher Pavel Curtis schätzte 1992 die Zahl der aktiven MUDder auf zwanzigtausend. Derzeit ist das MUD-Völkchen noch erheblich kleiner als die Völker anderer Bereiche des Netzes. Aber es wächst sehr schnell, und beeindruckend schnell entwickelt es neue Formen. MUDs sind lebendige Laboratorien, in denen die unmittelbaren Auswirkungen virtueller Gemeinschaften studiert werden können - die Auswirkungen auf unsere Psyche, unsere Gedanken und Gefühle als Individuen. Und bei unseren Versuchen, die Auswirkungen solcher Phänomene wie MUDs auf unsere Beziehungen im realen Lebe n und in unseren realen Gemeinschaften zu untersuchen, stellen sich fundamentale Fragen, nach den sozialen Werten in einem Zeitalter, in dem so viele unserer zwischenmenschlichen Beziehungen von Kommunikationstechnologien vermittelt werden.

«Was ist mit denen los?» fragen sich viele Leute, wenn sie zum ersten Mal von MUDdern hören. «Haben sie keine sozialen Bedürfnisse?» Dies ist die größte Sorge, die sich bei der Betrachtung der jüngeren Geschichte des Mediums eins tellt - handelt es sich bei ihm um ein gefährliches Suchtmittel?

Dokumentierte Fälle, in denen MUDder fast ihre gesamte Zeit in ihren fiktiven Welten verbringen, sind das Hauptargument für die These, daß CMC (computer-mediated communications, computervermittelte Kommunikation) neben sozialen Chancen auc h ernste soziale Gefahren in sich birgt. Doch die Frage der Kommunikationssucht läßt sich nicht so leicht beantworten, wie dies zunächst den Anschein hat. Einer meiner Führer ins MUD-Universum war Amy Bruckman vom Media Lab (Medienlab oratorium) des Massachusetts Institute of Technologie (MIT), die dieses Phänomen selbst erforscht. Sie meint dazu: «Was sollen wir über Zehntausende von College-Studenten denken, die ihre Zeit und staatlich geförderte Einrichtungen dazu nut zen, virtuelle Drachen zu jagen? Um diese Frage zu beantworten, muß man sich ernsthaft mit dem Problem auseinandersetzen und die Prämissen klären, die bei der Beurteilung sinnvollen Umgangs der Menschen mit ihrer Zeit gemacht werden. Welch e Werturteile sind in den vielen Antworten auf diese Frage irnpliziert?»

Zunächst ist es wichtig, den Reiz, die Faszination, die Gründe zu untersuchen, die die Menschen dazu veranlassen, das Medium so enthusiastisch, ja sogar besessen zu benutzen. Welche einzigartigen Eigenschaften sind es, die diese Anziehungskraft auf die Psyche ausüben und welche Schlüsse lassen sich daraus auf die menschlichen Bedürfnisse ziehen? Ich glaube, daß die Antwort in einem veränderten Identitätsbegriff liegt, und daß für dessen Veränderung frühere Kommunikationsmedien verantwortlich sind. Einige Menschen waren auf die Kommunikationsfülle vorbereitet, die von den MUDs angeboten wird, weil sie es von Geburt an mit kommunikationsgesättigten Umgebungen zu tun hatten. MUDs sind Be standteil der neuesten Phase einer langen Reihe geistiger Entwicklungen, die die Erfindung und der verbreitete Gebrauch von Symbolen mit sich brachten.

Frühere Kommunikationsmedien überwanden die traditionellen zeitlichen und räumlichen Barrieren, die die Menschen voneinander getrennt hatten, und änderten damit auch das menschliche Denken; zunächst wurde dürch die geschriebe ne Sprache und durch Druckverfahren eine Art kollektives Gedächtnis geschaffen, ein gespeicherter Gruppengeist, der vielen zugänglich war, nicht nur ein paar Barden und Priestern, die vorher, in der Ära der mündlichen Überlieferun g, das kollektive Wissen bewahrt hatten. Menschen, die lesen und schreiben können, denken anders, als nicht alphabetisierte Menschen oder auch Menschen «postalphabetisierter» Kulturen und sie haben auch ein anderes Selbstbewußtsein. Marshall Mc Luhan hat darauf hingewiesen, daß Telegraph, Telefon, Radio und Fernsehen das Überall und Jederzeit in ein Hier und Jetzt verwandelt haben. Heute hat jeder, der ein paar Münzen - oder eine Telefonkarte - besitzt und sich in der Nähe e iner Telefonzelle befindet, eine Macht über Zeit und Raum, die antike Herrscher niemals zu begehren wagten. Menschen, für die eine solche Macht gewohnter Bestandteil ihrer Realität ist, denken auch von sich selbst in einer besonderen Weise. Wie bei früheren sozialen Veränderungen, beispielsweise dem Übergang des Bewußtseins, Untertan eines feudalen Herrschers zu sein, zum Selbstbewußtsein eines demokratischen Bürgers, hat auch die gegenwärtige Verän derung an ihren Ausläufern begonnen und bewegt sich nun zum Zentrum hin.

Ähnlich, wie frühere Medien an Raum und Zeit gebundene soziale Schranken überwanden, scheint das neueste computervermittelte Kommunikationsmedium nun auch die Grenzen der Identität zu überwinden. Wir, «die Kinder von McLuhan» &uum l;berall auf der Welt, die mit dem Fernsehen und mit Telefonverbindungen ohne die Hilfe des «Fräuleins vom Amt» aufgewachsen sind, scheinen unsere Zeit - sei es mit Minitel in Paris, mit kommerziellen Computer-Plauderdiensten in Japan, England oder d en Vereinigten Staaten oder mit interkontinentalen Internet-Revieren wie den MUDs - damit zu verbringen, so zu tun, als wären wir eine andere Person oder sogar vorzugeben, wir wären gleichzeitig mehrere andere Menschen.

Ich kenne einen allseits respektierten Informatiker, der Stunden als imaginärer Fähnrich an Bord eines virtuellen Raumschiffes voll anderer realer Menschen aus aller Welt verbringt, die alle so tun, als wären sie Darsteller in einem Star-Tr ek-Abenteuers. Ich selbst stelle in verschiedenen virtuellen Gemeinschaften im Netz drei oder vier Persönlichkeiten dar. Ich kenne jemanden, der täglich Stunden als Fantasy-Darsteller verbringt, der «wie eine Kreuzung aus Thorin Oakenshield und dem Kleinen Prinzen aussieht» und in einer imaginären Weltallkolonie Architekt, Erzieher und manchmal auch eine Art Magier ist. Tagsüber ist David Energieökonom in Boulder in Colorado und Vater von drei Kindern; nachts ist er Spark aus Cybe rion City, wo man mich nur als Pollenator kennt. Einige Leute benutzen diese sehr entpersonalisierte Kommunikation auch dazu, sehr persönlich zu werden. Für sie ist CMC ein Medium, bei bestimmten Gelegenheiten rnit anderen Menschen Kontakt aufzu nehmen. Wegen der Maskierungen und Distanzierungen, die das Medium ermöglicht, werden diese Beziehungen im Cyberspace, anders als im wirklichen Leben, zugleich ständig in Frage gestellt. Maskierungen und Enthüllungen gehören zu Cybersp ace, wie schnelle Schnitte und Bilder von großer Intensität zum Fernsehen gehören. Identitätsspielereien sind in den CMC-Medien stets vertreten: neue Identitäten, falsche Identitäten, Multi-Identitäten und sich wandelnd e Identitäten sind in diesem Medium in den verschiedendsten Ausführungen anzutreffen.

Steckt man einmal im MUD, kann man ein Mann oder eine Frau oder etwas vollkommen anderes sein. Man kann die Identität eines Bienenstocks annehmen. Für andere bedeutet das Netz den Zugang zur Library of Congress, zu politischen Debatten, wissensc haftlichen Daten oder müßiger Plauderei - für MUDder dient es zur Reise in virtuelle Räume, in denen ihre anderen Identitäten wohnen.

Identität ist das erste, was in einem MUD geschaffen wird. Sie muß beschrieben werden, zum Vergnügen der anderen Leute, die im selben MUD leben. Die Schöpfung dieser Identität trägt dazu bei, eine ganze Welt zu erbauen. Geme insam mit den Rollen der anderen Darsteller ist die Rolle des eigenen Darstellers Bestandteil der Phantasie-Architektur, die für jedermann im MUD die Illusion aufrechterhält, ein Zauberer in einem Schloß zu sein oder der Kapitän an Bo rd eines Raumschiffs: die Rolle gibt anderen neue Bühnen, auf denen neue Darsteller agieren können, die die Realität des gesamten Szenarios bekräftigen.

Wie auch in WELL, können die Teilnehmer von MUDs miteinander über eine Reihe öffentlicher und privater Kanäle kommunizieren. MUD-Bewohner können einander private EMail schicken, die in den elektronischen Briefkasten des Empfä ngers gelegt und gelesen und beantwortet wird, wenn der Empfänger die Zeit dafür findet. Sie können sich an den verschiedenen Orten im MUD zu persönlichen Plauderstunden treffen, wie auch zu persönlichen Telefongesprächen. Mi t jedem anderen im selben Raum können sie «sprechen», «flüstern», «posieren» und auf diese Weise eine Art Gruppengespräch führen, in dem die Begrenzungen metaphorischer Räume als soziale Begrenzungen gelten. Zu einem bestimmten Th ema können über «CB-Funk» halböffentliche Gespräche geführt werden, während man einen bestimmten Ort wählt um dort zu «sprechen» oder zu «posieren». Zuerst ist dies sehr verwirrend, so als erlernte man eine Art von Kommu nikationsgymnastik.

Daß, um Bedeutungen auszudrücken, sowohl Posen als auch Wörter verwendet werden, stattet MUDs mit einer eigenartigen, aber sehr nützlichen Art körperloser Körpersprache aus. Posing (posieren), das auch Emoting (Gefühle ausdrücken) heißen kann, wird in höflichen, formellen Gesprächen verwendet, aber auch bei den radikal informellen Aktivitäten, dem Tinysex (Minisex). Wenn Sie beispielsweise der Darsteller Wirrkopf sind und den Befehl «emote spri ngt auf die Bühne» eingeben, sieht jeder andere, der sich an demselben Ort aufhält, die Nachricht: « Wirrkopf springt auf die Bühne» auf seinem Bildschirm. Ihre Kommunikationsmöglichkeiten werden um eine neue Dimension bereichert. Anst att einer Behauptung zu entgegnen, können Sie grinsen. Anstatt den Raum zu verlassen, können Sie in einer Wolke schillernder Blasen mit Kaugummigeschmack verschwinden. Emoting scheint zunächst eigenartig und künstlich zu sein, doch wen n Sie einmal darauf eingestiegen sind, gibt es Ihnen zusätzlichen Einfluß auf die Atrnosphäre, in der ein Gespräch stattfindet - ein bißchen von dem so sehr , wichtigen Kontext, den Worte allein oft vermissen lassen.

MUDs sind Echtzeit-Kommunikationseintöpfe, mit einem Anklang an das Improvisationstheater. Anders als bei Computerkonferenzen wie WELL oder anderen Bulletin-Board-Systemen interagieren die Leute in einer Art Echtzeit-Plaudermodus. Bei MUDs ist es seh r wichtig, wer gleichzeitig am selben Ort ist und wie die Interaktion zwischen diesen Leuten abläuft. MUDs sind Orte, in denen man sich eher rumtreibt als publiziert; sie sind mehr Spiel- als schwarze Bretter.

Anders als bei Computerkonferenz-Systemen oder normalen Plauderdiensten können MUD-Teilnehmer auch Objekte erfinden, mit magischen Kräften, wie fliegende Teppiche, die ihre Besitzer in geheime Gegenden des Königreichs bringen. Andere kö ;nnen diese Objekte kaufen oder stehlen - aber nur, nachdem sie genügend Wissen über den MUD angesammelt haben, seine welt-schöpfende formale Sprache ausreichend beherrschen und einige Herausforderungen gemeistert haben. Sie müssen nac h bestimmten Positionen streben und Feuerproben bestehen. In einigen MUD-Welten besteht die einzige Möglichkeit, die Geheimnisse zu ergründen, die außerordentliche Kräfte verleihen, darin, einen Mord zu begehen oder einen Fluch auszus prechen. Anders gesagt, die anderen MUDder müssen sich einig sein, daß Sie etwas von Wert für die Allgemeinheit geschaffen haben, bevor Ihnen Zauberkräfte verliehen werden.

Es gibt Welten, in denen Sie sich in acht nehmen müssen, nicht hinterrücks erdolcht zu werden, und andere Welten, in denen der anerkannte Diskurs eher darin besteht, gemeinsam etwas zu schaffen, als sich zu duellieren. Sowohl in den «sozialen» a ls auch in den «Abenteuer»-MUDs ist es das Ziel eines jeden Neulings, die Kraft zu erwerben, die Umgebung zu verändern, in der das Spiel stattfindet. Nach dem Ausloggen aus WELL hinterläßt man die Wörter, die man verschickt hat. Nach dem Ausloggen aus einem MUD können die anderen Einwohner die Häuser bewohnen oder erkunden, die man gebaut hat, die Städte, die man geplant hat, die Werkzeuge, Spielzeuge oder Waffen benutzen, die man erfunden hat.

Die Gemeinschaften und Gemeinden der MUD-Welten unterscheiden sich deutlich von denen anderer Räume wie WELL oder dem riesigen elektronischen Tohuwabohu Usenet oder den unzähligen Stadthallen und Salons kleinerer Bulletin-Board-Systeme. In MUDs findet über die Darsteller die Kommunikation mit anderen Menschen irgendwo im Netz statt; die Rolle wird aber auch gespielt, um sich Kennnisse über eine Welt zu erwerben, in der dieses Wissen sich in Macht über die anderen Einwohner verwand eln kann. Leute, die damit genügend Stunden ihres Lebens verbracht haben, werden zu ZauberInnen (wizzes, wie die informelle, geschlechtsneutrale Bezeichnung für wizard, Zauberer lautet, das heißt, zu MUD-Experten, die besondere Fähigk eiten erlangt haben, die beispielsweise die Macht gewInnen können, sich unsichtbar zu machen und heimlich den Gesprächen anderer Bewohner zu lauschen.

In weniger respektablen Winkeln des MUD-Universums ist es ein berüchtigter Trick, jemanden zu überreden, mit in eine dunkle Ecke im MUD zu kommen, und ein wenig Tinysex zu treiben, anzügliche Gespräche über den Bildschirm, als Dar steller in einem MUD, mit viel Posing - in einer dunklen Ecke, in der sich vielleicht einige unsichtbare Zauberlnnen versteckt haben und heimlich beobachten, was vor sich geht. Der Mißbrauch der Zauberkräfte zum Herumspionieren ist in den Teile n von Usenet, wo MUDder diskutieren, ein ständig wiederkehrendes Thema.

Net.sleazing, wie die heftigen Dialoge mit eindeutig zweideutigem Inhalt genannt werden, ist zweifelhafte, aber häufige und populäre Praxis in MUD-Land. Der vielleicht übelste Streich, den man einem Neuling in der MUD-Kultur spielen kann, i st, ihn (die meisten MUDder sind männlich, einschließlich vieler, die als weibliche Akteure auftreten) zu Tinysex zu überreden, der heimlich in einer Textdatei aufgezeichnet wird, und diese anschließend in die weltweite Usenet-Diskus sion über das MUD-Leben einzubringen. Ebenso könnte man auch jemanden verführen, die Begegnung auf Video aufzeichnen und kostenlose Kopien über den Video-Laden in der Nachbarschaft verteilen. Es gibt MUDs, in denen regelrechte Orgien a n der Tagesordnung sind. Es gibt auch MUDs, in denen es so keusch zugeht, wie dies in Klöstern angeblich der Fall ist, doch haben Sexgespräche einen festen Platz im MUD-Universum.

Tinysex, net.sleazing und die Vortäuschung eines anderen Geschlechts sind durchaus Aspekte von MUDs und CMC, die es wert sind, untersucht zu werden, doch ist es ein Fehler, das breite Spektrum von Verhaltensweisen im MUD auf ein niedriges Niveau zu r eduzieren. Die größte soziale MUDder-Gruppe sind College-Studenten zwischen siebzehn und dreiundzwanzig und die besondere Verwendungsweise, die sie für diese Technologie haben - Identitäts-Spiele und sexuelle Andeutungen - spiegeln di e hauptsächlichen Bedürfnisse dieser Gruppe wider. Aber nicht alle MUDder, die noch ohne akademischen Titel sind, sind unreif. Viele fühlen sich im MUD in mancherlei Hinsicht wohler als in der realen Welt. Amy Bruckman beschreibt den Ort, a n dem sie gern ihre Zeit verbringt, folgendermaßen:

Es ist 3:30 Ostküstenzeit und ich unterhalte mich mit meinem Freund Tao in meinem Quartier an Bord des Raumschiffes RS Yorktown. In Wirklichkeit bin ich in Massachusetts und Tao befindet sich in South Carolina. Wir sind mit einem Multi-User-Simulatio n-Environment (MUSE, Multi-User-Simulationsumgebung) verbunden, das Star-Trekking zum Thema hat. Im Moment haben sechsunddreißig Leute aus aller Welt eine Verbindung hergestellt. Der Name meiner Darstellerin lautet Mara. Tao kann alles sehen, was ic h sage oder tue, weil er sich im selben Raum befindet; alles, was bekanntgegeben wird, wird von allen sechsunddreißig verbundenen Leuten gesehen. Unsere private Konversation - über Geschlechterrollen und die Weisen, wie weibliche Akteure mit Au fmerksamkeiten überhäuft werden - ist mit einer öffentlichen Diskussion verwoben, die das Star-Trekking zum Thema hat und von berechnenden Wortspielen nur so wimmelt.

Amy beschreibt einen intellektuellen, ironischen Raum für Kenner des Mediums, in dem vielschichtige Metaphern, Wortspiele und clevere Programmierung das Salz in der Suppe sind. Trek-MUSE basiert auf den Rollen der Fernsehserie «Raumschiff Enterprise - Das nächste Jahrhundert».

Wenn Sie hingegen den Original-MUD betreten, MUD1, der 1979 bis 1980 von Roy Trubshaw und Richard Bartle, damals Studenten der Universität von Essex, England, geschaffen wurde, sehen Sie das folgende:

Du befindest dich auf einer schmalen Straße zwischen The Land und dem Ort, von dem du aufgebrochen bist. Im Norden und Süden befinden sich die Ausläufer einiger majästetischer Berge, die von einer riesigen Mauer umgeben sind. Die Stra ße setzt sich nach Westen fort, wo du in der Ferne eine strohgedeckte Kate und ihr gegenüber einen alten Friedhof sehen kannst. Der Weg hinaus führt nach Osten, wo Nebelschleier den geheirnen Pfad verdecken, über den du The Land betre ten hast.

The Land ist ein Ort, wo Gerissenheit lebensnotwendig sein und die Freundschaft mit einer ZauberIn den Weg zu Wohlstand abkürzen kann. Es kann Ihren Darsteller das Leben kosten, wenn Sie nicht vorsichtig dabei sind, ihm zu sagen, wohin er gehen soll. Wenn Sie lange überleben wollen, brauchen Sie ein Schild und ein Schwert, und wenn Sie auf ein Objekt oder ein lebendes Wesen treffen, denken Sie lieber zweimal nach, was Sie machen.

Indem Sie Befehle eintippen, herumreisen, Prüfungen bestehen, Ihr Wissen erweitern, Freundschaften schließen und Ihre eigenen Beiträge zum kollektiven Unternehmen deutlich machen, können Sie genug Kenntnisse über den MUD erwerben und mächtig genug werden, um die Fantasy-Welt durch eigene Schöpfungen zu bereichern und das Leben für alle anderen Leute, die dorthin kommen, um zu spielen, interessant machen.

Die Zauberlnnen sind nur der unterste Rang der Erleuchteten. Leute, die einen höheren Rang erreichen, indem sie einen eigenen MUD schaffen, mit aller Überheblichkeit, die dazugehört, werden als Götter bezeichnet. Zauberlnnen machen das Leben der Spieler interessant, Götter sind die ultimativen Gebieter.

Aber für den harten Kern der MUDder dreht sich die Frage mehr um das traditionelle Problem der Online-Leute: «Verdiene Deinen Lebensunterhalt». Wenn man siebzig oder achzig Stunden pro Woche auf seinen Fantasy-Darsteller verwendet, bleibt nicht mehr viel Zeit für ein gesundes gesellschaftliches Leben.

Für Studenten - und Studenten stellen den Löwenanteil der MUDder - kann es sich genauso zerstörerisch auf ihr Leben auswirken, wenn sie wöchentlich siebzig Stunden mit MUDden beschäftigt sind, wie wenn sie von einer chemischen Dro ge abhängig sind. In dem bekannten Forschungszentrum PARC (Palo Alto Research Center) der Firma Xerox in Palo Alto schuf der Informatiker Pavel Curtis auf seinem Arbeitsplatzrechner einen experimentellen MUD, LambdaMOO. Bei einer Podiumsdiskussion in Berkeley, Kalifornien, sagte er das folgende zum Problem des Suchtpotentials, das das MUDden hat:

Ich bin wirklich besorgt über das Ausmaß, in dem Menschen virtuelle Gerneinschatten als unterhaltsam empfinden. Manche Leute, die LambdaMOO benutzen, haben darüber keinerlei Kontrolle. Sie sind, glaube ich, ernsthaft im klinischen Sinne s& uuml;chtig.... Sie sind nicht von Videospielen abhängig, das wäre nicht dasselbe für sie. Sie sind kommunikationssüchtig. Sie sind besessen davon, daß sie vierundzwanzig Stunden täglich ausgehen können und immer Leute f ür interessante Unterhaltungen finden. Ich rede von Menschen, die wöchentlich bis zu siebzig Stunden in einem MUD verbringen. Siebzig Stunden in der Woche, während sie versuchen, die Schule in Cambridge zu schaffen. Ich rede von einem Typen , der an Feiertagen von seinen Eltern zuhause in Cambridge erwartet wird, seinen Zug um fünf Stunden verpaßt, seine Eltern anruft und erfundene Gründe für sein Zuspätkomrnen erzählt, den nächsten Zug nimmt, um 0:30 anko mmt, nicht nach Hause, sondern in einen Computer-Raum der Universität geht und weitere zwei Stunden in einem MUD verbringt. Um 2:30 kam er zuhause an und fand dort die Polizei und seine Eltern in Panik vor und fing dann an, darüber nachzudenken, ob ihm etwas aus der Kontrolle geraten war. Dies, denke ich, ist ein Problem. Aber wenn Menschen viel von ihrer Zeit damit verbringen, soziale Kontakte zu anderen Leuten zu pflegen, die sich Tausende von Kilometern entfernt befinden, kann man nicht sagen , daß sie sich abgeschottet haben. Sie scheuen die Gesellschaft nicht. Vielmehr suchen sie sie sehr aktiv. Vielleicht aktiver, als irgend jemand in ihrer Umgebung. Es ist ein vollkommen neues Ding. Das ist es, was ich über virtuelle Gemeinschaf ten zu sagen habe.

Amy Bruckman wählte die komplexen sozialen Welten, die sie in ihren Lieblings-MUDs entdeckte, zum Gegenstand ihrer Untersuchungen der psychologischen und sozialen Spezifika der MUD-Kultur. Sie graduierte mit dieser Arbeit am Massachusetts Institute o f Technologie. 1992 schrieb sie über MUDs als «ldentitäts-Werkstätten». 1993 initiierte sie die Gründung von MediaMOO, der MUD-Version des Media Lab - einer ernsthaften Ergänzung wissenschaftlicher Kongresse. 1992 galten ihre Stud ien der Frage nach den suchtverursachenden Eigenschaften der MUDs. Wie Pavel Curtis problematisiert sie vorschnelle Urteile darüber, ob ausgedehntes MUDden für bestimmte Personen in bestimmten Situationen förderlich oder schädlich ist. Sie führt einen Fall aus ihrem Bekanntenkreis im MUD an, einen Studenten, der es schaffte, einen guten Notendurchschnitt zu erzielen, einen Teilzeitjob zu erledigen und dennoch siebzig oder mehr Stunden wöchentlich im MUD verbrachte. Dieser Men sch kam seinen Verpflichtungen im wirklichen Leben nach - welche Kulturpolizei will ihm also sagen, er sei süchtig und brauche Hilfe? Eine von Bruckmans Mentoren, Dr. Sherry Turkle, Professorin am MIT, verfaßte etwas über die Gewohnheiten junger zwanghafter Programmierer, das vielleicht auch ein Schlüssel zum Verständnis des suchtverursachenden Potentials der MUDs sein könnte. Turkle legt den Schwerpunkt auf die Reflexion des Aspekts Meisterung des Lebens, ein Element, das v iele junge Menschen in ihrem Leben schmerzlich vermissen:

In der Entwicklung eines jeden Individuums spielt das Problem der Meisterung des Lebens eine wichtige Rolle. In der Entwicklung des Kindes gibt es einen Zeitpunkt, normalerweise ist dies der Beginn der Schulzeit, an dem das Problem der Lebensmeisterung ei ne herausragende, zentrale Rolle zu spielen beginnt. Lebensmeisterung ist der Schlüssel zur Autonomie, zu dem wachsenden Vertrauen in die Fähigkeit, sich aus der elterlichen Welt hinausbegeben zu können und sich in der Welt der Peergroups z urechtzufinden. Später, in der Pubertät, wenn Eltern und die Mitglieder der Peergroup neue soziale und geschlechtsspezifische Anforderungen stellen, kann erworbene Lebensmeisterung einen ruhenden Pol bieten. Die sicheren Mikrowelten, die sich da s Kind erbaut hat - die Mikrowelten des Sports, Schachspiels, der Literatur oder mathematischer und technischer Interessen - können Fluchtpunkte sein. Die meisten Kinder benutzen diese Plattformen, um die unbekannten Gewässer der Adoleszenz Schr itt für Schritt zu erforschen. Sie tun dies mit ihrem individuellen Ternpo. Für einige aber sind die Probleme, die während der Pubertät auftreten, dermaßen bedrohlich, daß sie ihre sicheren Räume nie verlassen. Sexuali tät erscheint ihnen als zu bedrohlich, als daß sie sie erforschen wollten. Was sich aus der Vertrautheit mit anderen Menschen entwickeln kann, ist so wenig vorhersehbar, daß sie als unerträglich empfunden wird. Wenn wir aufwachsen, f ormen wir unsere Identität und bauen dabei auf dem letzten Entwicklungsschritt unserer Psyche auf, den wir als sicher empfunden haben. Viele Menschen definieren sich daher über Kategorien der Kompetenz und Kontrolle.

Der Stolz auf die Fähigkeit, Dinge bewältigen zu können, ist eine positive Angelegenheit. Wenn jedoch das Selbstgefühl danach bemessen wird, worüber eine perfekte Kontrolle ausgeübt werden kann, wird die Welt, in der man sich sicher fühlt, sehr stark eingeschränkt - weil Kontrolle in der Regel über Dinge und nicht über Menschen ausgeübt wird. Lebensmeisterung kann zum Hindernis der individuellen Entwicklung werden, wenn sie dazu dient, die Furcht vor dem Ich und der Welt jenseits davon zu maskieren. Sie kann zu einer Falle für die Menschen werden.

Ausgefeilte MUD-Kenntnisse, Geschick bei der Kommunikation mit MUDdern, um die im MUD gesteckten Ziele zu erreichen, die Fähigkeit, Orte und Geheimnisse zu erfinden, die von anderen erkundet werden können, all dies können Formen dieser Art von Lebensmeisterung sein. Menschen mit einem geringen sozialen Ansehen in der realen Welt können sich durch ihre Geschicklichkeit in der Welt der MUDs Ansehen in ihrer alternativen Gemeinschaft erwerben. Auf Menschen, deren reales Leben von Eltern, Professoren und Chefs kontrolliert werden, üben Welten eine große Anziehungskraft aus, in denen Lebensmeisterung und die Bewunderung der Mitglieder der Peergroup jedern zuteil wird, der über Phantasie und intellektuelle Neugier verfüg t.

In einem der MUDs habe ich eine Familie kennengelernt, deren Vater seine Kinder in der Programmierung und den Naturwissenschaften unterrichtet und auch einfach nur in der Kunst, Phantasiewelten zu erbauen. Der Unterricht dieser Kinder findet in einem klei nen Winkel von Cyberion City statt, einem besonderen MUD, in dem solche Bildungsexperimente ausdrücklich erwünscht sind. Ist MUDden für diese Familie eine Sucht oder ein nachahmenswertes Bildungsmodell? Diese Frage kann auch auf die Verwend ung anderer CMC-Medien in anderen sozialen Zusammenhängen ausgedehnt werden. Bevor man entscheiden kann, ob ein Achtzig-Wochenstunden-MUDder süchtig oder ein Virtuose ist, muß man die Art und Weise untersuchen, wie er das Mediurn verwendet und wie die Technologie sein Verhalten, seine Gedanken und Beziehungen zu anderen Menschen beeinflußt.

An verschiedenen Orten kann man verschiedene Identitäten haben. In Cyberion City werde ich durch einen Darsteller namens Pollenator repräsentiert, in WELLMUSE durch Funhead (Wirrkopf). Wenn ich in Cyberion City den look-Befehl verwende, um Spark anzuschauen, werde ich in seiner Identitätsbeschreibung über seine Ähnlichkeit mit Thorin Oakenshield informiert:

look Spark
Du siehst eine Kreuzung aus Thorin Oakenshield und dem Kleinen Prinzen.
Immer lächelt er und pfeift ein Lied. Die meisten der Lieder sind bereits
600 Jahre alt.
Er hat bei sich:
Sparks Schwebe-Board (#41221v I) 
Den erleuchteten Schöpfer (#1255v) 
mg
Flamme
Apfel
Der look-Befehl für irgendeines der Objekte, die Spark dabei hat, würde weitere Beschreibungen zutage fördern, manchmal sogar Anweisungen, wie sie zu verwenden sind. In MUD-Welten ist eine Beschreibung dasselbe wie eine Schöpfung. MUDs sind Beweise dafür, daß Texte sogar in diesem ausgesprochen visuellen Medium immer noch sehr wirksam sind. Wenn man Text in eine der interaktiven Landschaften einflicht, die die MUDs bereithalten, kann man die Umgebung verzaubern. Amy Bruckman erinnert sich, daß das erste Objekt, das sie in einem MUD schuf, ein Teller mit Spaghetti war, die «sich unruhig wanden», wenn irgend jemand im Raum das Wort «hungrig» aussprach. Auch dann, wenn Amys Darstellerin nicht im MUD war, sah jeder, der si ch in dem Raum befand, in dem sie den Teller hatte stehen lassen, die Worte «die Spaghetti auf dem Teller winden sich unruhig », wenn das Wort «hungrig» fiel. Es entsteht ein deutlich anderer Kommunikationskontext, wenn man Teller mit sich windenden Spagh etti herumstehen hat, die darauf warten, sich in die Konversation einzuschalten. Die Reaktion der anderen Leute auf die geschaffenen Objekte zu beobachten, erhöht die Spannung des MUDdens ungemein.

Mein erstes Objekt war eine magische Kamera. Wie ich bei ihrer Herstellung vorgehen mußte, lernte ich in einem von mir selbst gestalteten Zauberseminar der virtuellen Universität im MUD. Ich konnte die Kamera in dem Raum aufstellen, in dem ich mich befand, und mir zeigen lassen, wer gerade noch unterwegs war und was an anderen Orten in meiner Abwesenheit passierte. Jetboy aus Cyberion City hat ein altes Grammophon in seinem Salon. Wenn man den Befehl «play Grammophon» eintippt, wird danach alle dreißig Sekunden der Titel einer Neuerwerbung für Jetboys riesige Sammlung klassischer hawaiianischer Musik angezeigt, gleichgültig, was sich sonst noch auf dem Bildschirm abspielt.

MUDs sind tief in dem Teil der menschlichen Natur verwurzelt, der es liebt, Geschichten zu erfinden und zu schauspielern. In Computers as Theater stellt Brenda Laurel die These auf, daß die starke Identifizierung, die die Spieler von Computerspielen mit den virtuellen Charakteren der Computer-Datenbanken empfinden, ein Beispiel für die menschliche Fähigkeit der Mimesis ist, der Aristoteles die kathartische (und damit soziale) Wirkung des Dramas zuschrieb.

Richard Bartle, einer der ersten MUD-Götter, der an dern Ur-MUD mitwirkte, stellte eine eigene Mimesis-Theorie auf, als er 1990 schrieb:

MUAs [Muli-User Adventures, Muli-User-Abenteuer] beeinflussen eine große Zahl ihrer Spieler weit mehr, als dies eine Online-Konversation oder ein Computerspiel allein tun. MUAs üben auf die Spieler eine emotionale Anziehungskraft aus, die in de r Möglichkeit, sich mit der Figur im Spiel zu identifizieren, begründet ist, in dem Gefühl, daß die Dinge, die der Figur im Spiel widerfahren, unmittelbar dem Spieler selbst passieren.

Der erste MUD war eine Multi-User-Märchenwelt, Tolkiens Herr der Ringe nachgebildet, einer Welt der Zwerge und Schätze, Krieger und ZauberInnen, Schwertkämpfe und Zauberei - The Land. Die MUDs der zweiten Generation führten weitere Met aphern ein und nun gibt es Varianten der dritten, vierten und fünften Generation. Ein MUSE (Multi-User Simulation Environment), eine Multi-User-Simulationsumgebung, ist eine der MUD-Spielarten, in der alle Spieler, nicht nur die Zauberlnnen, ihre Umg ebung verändern können. Mit dem MUSEcode können auch Computer-Simulationen realer Phänomene erstellt werden, so daß MUSEs auch für wissenschaftliche und Bildungszwecke geeignet sind.

MUD-Welten entstehen aus Erzählungen. Jeder Darsteller, jedes Ding und jeder Ort hat eine Geschichte. Für jedes Objekt in einem MUD, sei es die Identität eines Darstellers oder der Stuhl auf dem er sitzt, gibt es eine schriftliche Charakter isierung, die auf dem Bildschirm erscheint, wenn man beschließt, einen Blick (look) darauf zu werfen.

In der MUD-Sprache (MUDspeke) heißt diese Beschreibung «the description». Sobald Sie sich die Qualifikation dafür erworben haben, können Sie eine graue Maus oder auch eine lila Bergkette erfinden oder was sonst noch durch Worte beschrieben werden kann. Obwohl die Phantasie-Welten der MUDs nicht mehr Realität besitzen als Romane oder Seifenopern, bezeugen die Leute, die ich im realen Leben getroffen habe und die einen Teil ihres Lebens in MUD-Welten verbringen, leidenschaftlich, da&szl ig; ihre Gefühle für ihre Darsteller sehr real und oftmals sehr intensiv sind.

1992 sagte Richard Bartle in einer Unterhaltung mit mir:

Es ist schrecklich, in einem Spiel seine Persönlichkeit zu verlieren. Es ist das Schlimmste, was einem passieren kann, und die Leute sind wirklich sehr davon mitgenommen. Normalerweise sagen sie, daß sie «ausgeweidet» wurden. Dies ist das Wort, das Spieler verwenden, weil nur mit ihm beschrieben werden kann, wie schrecklich es ist. Man kann nicht sagen «du meine Güte, ich habe meine Persönlichkeit verloren! », so wie man sagt «lch habe meinen Schuh verloren». Es ist nicht einmal mit d em Ausruf «lch habe meinen Lieblingshamster verloren!» vergleichbar. Es ist mehr wie «Mein Gott, ich bin gerade gestorben. Der, den sie gerade umgebracht haben, das bin ich!» Es geht nicht um «lch habe gerade alle Früchte meiner Arbeit verloren, all die Zeit war vergeudet und alle Anstrengung umsonst.» Es bedeutet «lch bin gerade gestorben, das ist furchtbar! Oh, mein Gott, ich bin tot! Leer.»

In einigen MUDs sind Reinkarnationen möglich, in anderen ist der Tod nicht wieder rückgängig zu machen.

Mein erstes Abenteuer im MUD, genauer in einem MUSE, spielte sich in einer Kombination aus Raumkolonie und Wissenschaftsmuseum ab. Während einer ziemlich ernsten privaten Konferenz mit einem WELLianer, in der es um geschäftliche Angelegenheiten ging, hörte ich zum ersten Mal von Cyberion City; er entdeckte, daß ich mich für virtuelle Gemeinschaften interessiere und beschrieb mir in einer EMail einen Ort im Netz, in dem er und sein zehnjähriger Sohn beim Aufbau einer Raumkolo nie mithalfen. Dieser Freund, den ich nie persönlich gesehen hatte, erzählte mir, daß einige gebildete Leute mit utopischem Glauben an die Möglichkeiten, Cyberspace als Bildungsmedium zu verwenden, eine neue Variante von Computerkonfe renz-System gechartert hatten, ausdrücklich dafür, eine virtuelle Gemeinschaft aufzubauen.

Aslan und Moulton, die ersten Zauberlnnen, die ich im MUD, in Cyberion City, traf, waren von der hilfsbereiten Sorte. Ich hätte vollkommen andere Erfahrungen machen können, wenn ich ohne jegliche Unterstützung in der Hack-and-Slash bzw. -Sl ay-Welt (Programmieren und Abschlachten) des harten Kerns der MUDder gelandet wäre und die Aufmerksamkeit eines übellaunigen Zauberers oder Gottes auf mich gezogen hätte, noch bevor ich ein Schild hätte erwerben können. Heute ist mir klar, daß ich mit Cyberion City großes Glück hatte. Damals existierte Pollenator noch nicht, ich hatte noch nicht einmal daran gedacht, daß ich einen passenden Namen für die Identität würde wählen müssen , die ich in dieser vollkommen neuen Welt annehmen würde. Ich war damals, so würde man mich in den rauheren Gegenden des MUD-Universums bezeichnen, ein «ahnungsloser Newbie» (Neuling) - ein Begriff, der in dem englischen MUD-Original gepräg t worden war und in die «MUDspeke» (MUD-Sprache) eingegangen ist.

Als ich zum ersten Mal in der Landebasis von MicroMUSE ankam, wurde ich von Moulton, einem der drei Direktoren empfangen, der mich herumführte. Bei meinem ersten Besuch machte Cyberion City den folgenden Eindruck auf mich:


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Willkommen in der Micro MUSE! 
Unser Host heißt chezmoto.ai.mit.edu,
Port 4201.
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auf dem laufenden zu bleiben. 'NEWS' enthält 
eine Liste der neuen Befehle, Details finden 
sich in 'help' (OnlineHilfe). Um weitere 
Informationen zu erhalten, sollten neue 
Mitspieler folgendes eintippen: help getting 
started (Hilfe bei den ersten Schritten)
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Cyberion City Haupttransporter-Landebasis (HTLB)
Langsam kommen die hellen Umrisse der 
Transporter-Landebasis von Cyberion City in 
Sicht. Von einer der Transporterstationen der 
Erde bist du hier herauf gebeamt worden (und 
das war mit beträchtlichen Kosten verbunden). 
Du bist einer der wenigen abenteuerlustigen 
und mäßig wohlhabenden Leute, die sich dazu 
entschlossen haben, Cyberion City, die größte 
Weltraumstadt des Sonnensystems, zu besuchen 
(und vielleicht hier zu leben). Der 
Transportbegleiter, der allen Neuankömmlingen 
in dieser Weltraumstadt erste Hinweise gibt, 
heißt dich willkommen.
Anwesend:
Begleiter
Sichtbare Ausgänge:
Ausgang
Willkommen in der Micro MUSE, dein Name 
ist Gastl
Begleiter sagt "Willkommen, Gast, in 
Cyberion City."
Begleiter sagt "Tu dir keinen Zwang an, jeden 
regulären Bewohner um Hilfe zu bitten."
Begleiter sagt "Lies auf jeden Fall unsere 
ausführliche OnlineHilfe."
Begleiter sagt "Ich hoffe, du genießt deinen 
Aufenthalt."
Der Begleiter lächelt dich an.
Du steigst von der HTLB-Plattform herunter.
Haupttransporter-Halle
Dieser Raum hat eine hohe, gewölbte Decke 
und weiße Wände. Der dicke schwarze Teppich 
verschluckt das Geräusch deiner Schritte. Du 
befindest dich mitten in der Transporter-Halle, 
in der alle Besucher von der Erde ankommen. 
Auf der einen Seite befindet sich der 
Informations-Tresen. Eine Tür führt zum 
Reisebüro, eine weitere Tür ist der Ausgang 
und führt direkt nach Cyberion City. Intercom 
von der Abteilung für Public Relations steht 
in der Mitte der Halle; tippe 'look Intercom', 
wenn du Hinweise brauchst.
Anwesend:
Spark
Sparks Helfer, die Feuerfliege
koosh
Mymosh
Ramandu
Intercom
TourBot
Sichtbare Ausgänge:
Information, Ausgang, Tür zum Reisebüro
Spark sagt "Hi!"
Du sagst "Hi"
Spark sagt "Kann es sein, daß du Howard bist?"
Du sagst "Genau. Gerade angekommen!"
Spark sagt "Gut so!"
Spark sagt "Warte eine Sekunde"
Du sagst "Worum gehts?"
Dein Armband-Kommunikator macht eine leise 
Ansage: "Mache einen Drachenflug zu dem 
sagenumwobenen Planeten Pern, der Heimat 
des Drachen Reiters von Pern! Abflüge der 
Drachenflüge von Abteilung 0-Arc 7 im 
Teleportations- und Transport-Center. 
Geh dorthin und 'winke Drachen', um einen 
kostenlosen Erkundungsflug nach Pern zu 
erhalten."
Spark sagt "Ich glaube, Aslan würde gern 
hi sagen und er sagt, er muß bald gehen."
Aslan ist angekommen.
Während du gerade nicht hinschaust, 
erscheint Aslan.
Spark sagt "Möchtest du hallo sagen?"
Spark sagt "Verflixte Zauberer:)"
Aslan sagt "Hallo Howard. Nett, dich 
kennenzulernen!"
Du sagst "Hallo!"
Gast5 ist angekommen.
Gast5 verläßt die Haupttransporter-Anlage
Gast5 ist gegangen.
Aslan sagt "Vielleicht hättest du gern 
einen Darsteller mit einem anderen Namen 
als Gastl?"
Du sagst "Darüber muß ich erst einmal 
nachdenken. Der Name ist eine wichtige 
Sache. Im Moment versuche ich erst einmal, 
herauszubekommen, wo ich bin.;-)"
Aslan sagt "Okay:)"
Aslan sagt "Nun, ich muß gehen. Schön, daß 
du da bist. Ich nehme an, daß Spark dich 
herumführen wird."
Du sagst "Bis später."
Spark sagt "Ich würde dir raten, zunächst 
einmal eine Weile Gast zu bleiben. Du trägst 
dann ein Schild, auf dem steht: "Sei nett 
zu mir, ich bin ein Gast" "
Aslan winkt.
Spark sagt "Bye!"
Während du gerade nicht hinschaust, 
verschwindet Aslan.
Aslan geht nach Hause.
Aslan ist gegangen.
Spark winkt.
Du sagst "Was ist los, "Spark winkt?" 
Wie machst du das?"
Spark sagt "Wenn du einen Doppelpunkt tippst, 
wie beispielsweise ":winkt", sehen wir alle, 
wie dein Darsteller diese Pose einnimmt."
:winkt
Gastl winkt.
Aus diesem Ausschnitt aus einer MicroMUSE-Sitzung können Sie ersehen, daß, wenn jemand den Raum betritt, in dem Sie sich befinden, dies vom Computer bekanntgegeben wird. Sobald jemand den Raum betritt oder verläßt, erscheint auf dem Bildschirm aller anderen Mitspieler, deren Darsteller sich ebenfalls in diesem Raum befinden, eine Meldung. Es kommt also darauf an, wer sich in dem Raum befindet, in dem Sie ihre Gespräche führen, und Sie müssen sich umsehen und schauen, w er da ist. Cyberion City und die anderen MicroMUSE-Planeten bestehen aus mehreren Hundert miteinander verbundener Räume und es gibt sowohl sehr belebte Zonen, wie die Haupthalle, als auch private Bereiche, wie die Wohnungen der Bewohner von Cyberion City.

Wenn Leute kommen oder gehen, sprechen oder posieren, weiß dies jeder, der in demselben Raum ist. Oder, wenn ein magisches Objekt oder der Raum selbst so programmiert wurde, daß er auf bestimmte Wörter oder ein bestimmtes Verhalten reagie rt, weiß dies jeder, der in demselben Raum ist. Die öffentliche Bekanntgabe, die meine Konversation mit Spark unterbrach, wurde über den öffentlichen Kanal gesendet, eine Art systemweiter CB-Funk. Es gibt eine ganze Reihe verschiedene r Kanäle und jeder kann private Kanäle für sich selbst und seine Freunde oder für Arbeitsgruppen gründen. Kanäle können an- und ausgeschaltet werden und Sie können private Räume schaffen, in denen Sie sicher se in können, daß Ihre Unterhaltung von niemand Fremdem gehört wirdes sei denn, Sie werden gerade von einer Zauberln ausspioniert.

Stundenlang wanderte ich durch Cyberion City, bevor ich einen ungefähren Eindruck von der Größe dieses Ortes hatte. Mein Darsteller, Pollenator, erhielt als neuer Einwohner genug Kredit, um eine Wohnung in einem der Wohnbezirke kaufen zu k önnen. Moulton, der wohl einer der verantwortlichen Zauberer und ZauberInnen war (hier wurden sie allerdings Einwohner, Erbauer und Administratoren und nicht Newbies, ZauberInnen und Götter genannt), erklärte mir den Befehl («dig»), mit dem ich ein paar Räume schaffen konnte, um Gäste zu empfangen und an Projekten zu arbeiten. An der Universität von Cyberion City gibt es einige Tutorials, deren Lerntempo man selber bestimmen kann, und es gibt auch ein Online-Glossar der Befeh le, aber jeder sagt, daß man hauptsächlich lernt, indem man andere Einwohner fragt. Dieser MUD hat von sich selbst das Bild entworfen, eine Bildungskolonie zu sein, in dezr jeder jeden unterrichtet. Wenn man in Cyberion City landet, kann man de r Charta den warnenden Hinweis entnehmen, daß es sich bei den Einwohnern urn Kinder, Lehrer, Bibliothekare und sonstige Leute handeIt, die ihren Spaß haben wollen, und daß jeder, der die Regeln der höflichen Kommunikation verletzt, damit rechnen muß, daß sein oder ihr Darsteller entfernt wird. Im Vergleich zu dem rauhen Klima in WELL, im Usenet oder einem ernsten Abenteuer-MUD ist es ein vollkommen anderes Gefühl, sich an einem neuen Ort zurechtzufinden, an dem jede r sofort seine Arbeit oder sonstige Aktivität unterbricht, um den Neuankömmling herumzuführen.

Ich traf einige andere Darsteller, während ich mich umsah und langsam heimisch wurde. Ich freundete mich mit Eri an, einer Bibliothekarin aus Nord Carolina, die einen recht boshaften Humor hat: Auf dem Fußboden ihres Wohnraums in Cyberion City befindet sich ein Schild mit der Aufschrift: «Achtung, schwarzes Loch». Wenn man den Fehler macht, in das schwarze Loch hineinzusehen, fällt man in den Keller, in dem rnan mit dem «look»-Befehl lediglich die Auskunft «lm Keller ist es dunkel» erh&aum l;lt. Wenn man es mit «abrakadabra» oder «hokuspokus» versucht, erhält man die Meldung «Sag das magische Wort, das deine Mammi dich gelehrt hat». Sagt man schließlich «bitte», wird man wieder aus dem schwarzen Loch in Eris Wohnzimmer entlassen.

Moulton zeigte mir, wie der MUSEcode verwendet werden muß, um Objekte zu erfinden - eine Angelegenheit, die für jemanden wie mich, der nicht programmieren kann, zunächst frustrierend rätselhaft war. Auf Teenager, die ständig auf der Suche nach einer neuen kniffligen Denksportaufgabe sind, scheint MUSEcode eine große Anziehungskraft auszuüben. In sozialen MUDs ist es eine große Belohnung, wenn man ein Werkzeug oder Spielzeug oder etwas anderes Erstaunliches schaff t, das die anderen kaufen oder kopieren oder sich ausleihen möchten. Wenn Sie sich als weibliches Wesen ausgeben, kommt es vor, daß Zauberer Ihnen magische Objekte schenken, mit denen Sie schnell von Ort zu Ort gelangen können oder die Sie vor irgendwelchen Angriffen schützen.

Während Moulton mir zeigte, wie ich einer der Raumkonstrukteure von Cyberion City werden könnte, fragte ich ihn, wie er dazu gekommen war, bei MUSE mitzumachen. Moulton, IRL Barry Kort, hatte eine zwanzigjährige Karriere als Netzspezialist bei den Bell Laboratories, dem Raumzentrum der NASA und MITRE, einer der großen Software-Denkfabriken hinter sich. In den späten achtziger Jahren verspürte er das Bedürfnis, etwas für den Zustand der Welt zu tun. Er beschloß ;, sich auf Bildungsfragen zu konzentrieren, ein Gebiet, wo er vermutlich sein Fachwissen würde nutzbar machen können. In unserer Gesellschaft besteht ein großer Bedarf und zugleich ein großer Mangel an wissenschaftlicher Bildung. Er wußte, daß leistungsfähige Netztechnologie, kombiniert mit Computersimulation, ein riesiges, noch lange nicht ausgeschöpftes Bildungspotential darstellt. Er geriet rein zufällig zu den MUDs und kam zu der Überzeugung, da&s zlig; ihre Technik für etwas von größerem sozialen Wert verwendet werden könnte. In einem dieser MUDs lernte er Stan Lim kennen, der sich an der California State University auf Systementwicklung spezialisiert hatte. Sie begannen, eine neue Art MUD zu konzipieren.

Schon vor einigen Jahren hat Kort seine Karriere als Netzspezialist aufgegeben. Einen Teil seiner Zeit verbringt er mit einer ehrenamtlichen Tätigkeit im Computermuseum von Boston; seine sonstige Zeit verbringt er damit, MicroMUSE aufzubauen, das Com puter-Universum, in dem sich Cyberion City (zusammen mit anderen Planeten und Kolonien) entwickelt. Er hat die Möglichkeit, Hardware und InternetVerbindungen im KI-Laboratorium von MIT zu benutzen, und ein Büro bei der EDV-Beratungsfirma Bolt, B eranek und Newman in Cambridge - wo vor zwanzig Jahren die ersten Computernetze entwickelt wurden.

Bei seinen autodidaktischen pädagogischen Studien stieß Kort auf den Schweizer Entwicklungspsychologen Jean Piaget, der jahrzehntelang beobachete, wie Kinder spielen. Er fand heraus, daß Kinder lernen, indern sie die Welt erforschen und m it ihr spielen und daß es möglich ist, die zur spielerischen Entdeckung einladende Umgebung so zu gestalten, daß einige der traditionellen Lehrinhalte vermittelt werden können. Die Anhänger Piagets sind davon überzeugt, da& szlig; Kinder mehr Wissensinhalte in einem kürzeren Zeitabschnitt begreifen, wenn sie ihnen als eine Welt präsentiert werden, die sie entdecken können, und nicht als Pensum, das auswendiggelernt werden muß. Daß manche Leute so v iele Stunden im MUD verbringen und sogar ihre anderen Pflichten vernachlässigen, war laut Kort ein Beweis dafür, wie wirkungsvoll dieses Medium eingesetzt werden konnte - man mußte sich nur vor Augen führen, welche Mühe die Leute auf sich nahmen, um die esoterischen MUD-Codes zu erlernen.

«lch wußte», erzählte mir Kort während einer unserer Treffen, bei denen wir weiter an MicroMUSE bauten, «daß Kinder enorm schnell lernen würden, und daß sie eine Menge Fähigkeiten und viel Wissen erwerben würden. » Kort war aber auch daran interessiert, eine Gemeinschaft zu gründen. Die Online-Bildung sollte auch darauf abzielen, eine Online-Gemeinschaft zu gründen.

Kort und Lim orientierten die Regeln von MicroMUSE, der Simulationsumgebung von Cyberion City, an dem Children's Television Workshop - und schufen ein nicht kommerzielles, nicht profitorientiertes Unternehmen, das die in Netzen schlummernden Bildungsm&oum l;glichkeiten ausschöpfen sollte. Dieses Regelwerk - von allen zukünftigen Einwohnern zu lesen - war ein demokratischer, aber dennoch für alle verbindlicher Verhaltenskodex, und das persönliche Engagement, das die Architekten von Micro MUSE aufbrachten, setzte die Maßstäbe für eine neue Spielart von MUDs. Anstelle von Schlachtfeldern findet man hier ein Wissenschaftsmuseum, in dem Kinder mit Computersimulationen spielen können, die naturwissenschaftliche Gesetzm&aum l;ßigkeiten lehren; an der Universität einige MUSEcode-Tutorials, deren Lerntempo man selber bestimmen kann; Spielplätze, magische Königreiche, sogar Weltraumhäfen, wo man sich einschiffen kann, um zu anderen MUSE-Planeten zu fli egen.

Das gesamte MicroMUSE-Universum, in dem sich Cyberion City befindet, ist auf mehr als zweitausend Einwohner aus der ganzen Welt angewachsen. Sie können bis zu einhundert Objekte schaffen. Wenn sie noch darüber hinausgehen wollen, werden sie aufg efordert, etwas von Wert für die Allgemeinheit zu schaffen. Wissenschaftszentrum, Museum, Universität, Einkaufszentrum, Vergnügungsviertel, Regenwald, Yellowstone-Park und Planetarium sind Werke, mit denen sich Einwohner als Erbauer qualifi zierten.

Die traditionellen Abenteuer-MUDs haben alle eine Spielstruktur, die eine bestimmte Anzahl von «Erfahrungs»-Punkten fordert, wenn die Spieler mit mehr Macht und Prestige ausgestattet werden wollen. In der blutigsten aller MUD-Welten, im MUD1, das an der U niversität Essex geschaffen wurde, runzelt man die Stirn, wenn jemand ErfahrungsPunkte sammelt, indem er einen unerfahrenen Spieler köpft. In einigen anderen Welten wundert man sich über gar nichts. Man kann sich wie in einem Horrorfilm vor kommen.

Wenn es nur MUDs gäbe, in denen man gewalttätige Ersatzhandlungen und andere antisoziale Verhaltensweisen an den Tag legen kann, wäre die Entscheidung, wie man mit ihnen in den staatlich geförderten und universitären Netzen verfah ren soll, nicht so schwer zu beantworten. Doch die Entwicklung der MUDs verzweigte sich, als entdeckt wurde, daß mit derselben Technologie weniger blutrünstige Interaktionen realisiert werden können.

Das Genre der sozialen MUDs, in dem zwar auch hierarchische Machtstrukturen vorkommen können, in dem es aber keine vorgegebenen Ziele und kein Punktesystem gibt, entwickelte sich, nachdem James Aspnes von der Universität Carnegie-Mellon 1988 Tin yMUD geschaffen hatte. Ausgehend von egalitären und gewaltfreien Werten, entwickelte Aspnes eine Vielzahl unterschiedlicher MUD-Welten und neuer MUDSprachen. In dem Moment, als jeder MUD-Einwohner, nicht nur die ZauberInnen, am Aufbau des Spiels teil nehmen konnte, und als Raub und Mord keinen Gewinn mehr brachten, entstand auch eine neue Spezies von MUD-Enthusiasten.

Amy Bruckman richtete an Aspnes die Frage, wie sich diese Ideale entwickelt hätten - ob sie durch das Design beabsichtigt waren oder sich zufällig durch die Mitglieder der ersten TinyMUD-Gemeinschaft ergaben -, und er verriet folgendes:

Die meisten Abenteuerspiele und früheren MUDs hatten irgendein Punktesystem, aus dem sich soziale Ränge und oft auch besondere Privilegien ableiteten; solch ein System wollte ich nicht, nicht aufgrund ausgeprägter egalitärer Ideale (ob gleich ich denke, daß es triftige egalitäre Argumente gegen die Prinzipien der traditionellen MUDs gibt), sondern weil ich ein Spiel mit offenem Ausgang schaffen wollte, und jedes Punktesystem das Problem mit sich brachte, daß irgendwann jeder Spieler den höchsten Rang beziehungsweise die höchste Entwicklungsstufe erreicht hatte und das Spiel für ihn damit beendet war, wenn er nicht neue Motive fand, mitzuspielen. Dieser Ansatz zog Leute an, die für Gleichheit waren un d stieß Spieler ab, die Punkte gewinnen und andere Spieler ausstechen wollten - ich habe durchaus einen «score»-Befehl eingebaut, weil fast jeder diesen Befehl ausprobierte, doch die meisten Spieler merkten bald, daß es sich um einen Scherz ha ndelte. Ich glaube, daß dieser Ansatz eine Art natürlicher Auslese mit sich brachte, die schließlich zu den egalitären Idealen führte. Ich mag das, aber es war nicht mein eigentliches Ziel.

Bruckman schlußfolgerte aus dieser Äußerung von Aspnes, «daß sie Langdon Winners Feststellung bestätigen, Artekakte hätten politische Implikationen. Die Änderungen an der MUD-Software waren die Grundlage für ande re Interaktionsstile, zogen Menschen mit anderen Persönlichkeitsmerkmalen an und förderten die ethische Seite der Gemeinschaft zutage. Das Software-Design übte starken Einfluß darauf aus, was zutage trat. »

Richard Bartle äußert sich nicht über soziale MUDs, aber er hat eine dezidierte Meinung zu MUDs als Spiele. In einem Gespräch mit dem Autor betonte er mehrfach, daß das MUDden, so wie er es ursprünglich konzipierte, seinen eigentlichen Witz verliert, wenn nicht mehr die Möglichkeit besteht, daß ein Spieler sterben kann. Die Menschen benutzen solche MUDs als soziale Spielzeuge oder als Theater, doch nach Bartles Meinung handelt es sich um kein Spiel mehr. Diese un terschiedlichen Betrachtungsweisen führten dazu, daß sich die Evolution der MUDs in zwei verschiedene Richtungen verzweigte, und von beiden Richtungen - der Abenteuer- und der sozialen MUD-Variante - ist zu erwarten, daß sie sich weiteren twickeln werden.

Wenn man nicht nur kommuniziert, sondern virtuelle Objekte in virtuellen Gebäuden in virtuellen Königreichen schafft, ist der Speicherbedarf dieser Datenbanken enorm. MUDs bedeuten für die Hosts, auf denen sie ausgeführt werden, da&szl ig; das Datenaufkommen im Telekommunikationsnetz und die Belastung des Arbeitsspeichers enorm steigen. Eines der berühmtetsten gewaltlosen MUDs, Islandia, ein TinyMUD der Universität Berkeley in Kalifornien, wuchs auf dreitausend Spieler an, von denen die Hälfte aktiv waren, und die Datenbank mußte 14.900 Zimmer beherbergen. An der Amherst-Universität führte die Kombination von Suchtgefahr und Systembelastung dazu, daß das MUDden von dort verbannt wurde. Für die V erbannung der MUDs aus ganz Australien war die offizielle Begründung, das hohe Datenaufkommen im Telekommunikationsnetz. Das regionale Telofonnetz Australiens ist über Satellit mit Internet und damit mit den Hauptnetzen der anderen Kontinente ve rbunden; die Kosten dafür werden zur Hälfte von der NASA getragen, die Australien aufforderte, die großen Steigerungsraten des Datenaufkommens zu reduzieren. MUDs hatten auf der Prioritätenliste der australischen Netzverwaltung, in de r die «akzeptablen» Verwendungszwecke von Internet klassifiziert werden, einen sehr geringen Stellenwert.

Daß im MUD das Spiel mit der sexuellen Identität einen vorrangigen Stellenwert hat, ist einer der Gründe, warum konservative Autoritäten das MUDden mit Universitätscomputern unterbinden. Die Vortäuschung eines anderen Geschl echts und andere Betrügereien sind in Cyberspace nichts Neues. Richard Bartle erzählte mir die Geschichte von «Sue», die in den frühen achtziger Jahren so viele Köpfe verdreht und Herzen hatte höher schlagen lassen:

Sue lebte in Südwales, also weit entfernt vom Rest der MUD-Gemeinschaft, lange Ferngespräche entfernt. Und Sue schaffte den ganzen Weg nach oben, zur Position des Spielverwalters, «Arch Witch». Sie schrieb jedem Briefe, lange, altmodische Briefe auf Papier. Sie legte Fotos von sich bei. Sie sieht ziemlich gut aus. Für uns war Sue weiblichen Geschlechts. Einer unserer Zauberer verliebte sich bis über beide Ohren in Sue, schickte Fotos, Geschenke und so weiter und Blumen, und er machte i hr sogar einen Heiratsantrag. Dann verhielt sich Sue plötzlich vollkommen anders, als gewohnt. Und plötzlieh sagte sie, daß sie als Aupair nach Schweden gehen würde, und das war's. Wir hörten nichts mehr von ihr, was uns verd&aum l;chtig vorkam.

Eine Gruppe ZauberInnen trug Fakten aus Sues Briefen zusammen, daß ihr Vater eine Fabrik besaß, und du weißt ja, daß sie in Südwales lebt, und wir hatten die Adresse, an die wir geschrieben hatten. Einige von uns fuhren hin - ich war nicht dabei -, um Sue zu besuchen, klopften an, und diese Frau öffnete die Tür. «Hallo, wir wollen Sue besuchen» Die Frau sagt: «Sie kommen besser herein. Der Name von Sue ist leider Steve, und er ist verhaftet worden und wird beschuldig t, im Verkehrsministerium Unterschlagungen begangen zu haben. Im Moment ist er im Gefängnis. Ich bin seine Frau.»

Die Möglichkeit des elektronischen Betrugs, sich die intimsten Geheimnisse anderer Menschen zu erschleichen, gehört zum Wesen dieser Technologie. Es handelt sich bei den Schwindlern nicht nur um ein paar Leute. Wenn man die messageries roses in Paris und weltweit die elektronischen Plauderdienste und Bulletin-Board-Systeme zusarnmenzählt, gehen die Online-Geschlechtsumwandlungen in die Hunderttausende. Einige täuschen perfekt genug, um eine ganze virtuelle Gemeinschaft auf den Kopf zu stellen.

Im Oktober 1985, WELL war gerade sechs Monate alt, erschien in der Zeitschrift Ms. die Geschichte «The Strange Case of the Electronic Lover» (Der merkwürdige Fall eines elektronischen Liebhabers) von Lindsy Van Gelder - ein warnendes Beispiel fü r alle, die sich in virtuelle Gemeinschaften hineinwagen.

Van Gelder hatte die Welten der Online-Kommunikation untersucht und war auf den CB-Kanal in CompuServe gestoßen. CompuServe ist ein internationaler Informationsdienst, der EMail, Konferenzsysterne und einen Plauderdienst anbietet, der dem CB-Funk de r siebziger Jahre nachempfunden ist. 1985 hatte CompuServe bereits mehr als einhunderttausend Mitglieder - die drei- bis fünfmal so viel zahlten wie WELL verlangte. Eine der aktiven Mitglieder, die Van Gelder kennenlernte, war Joan, bei CompuServe ei ne Berühmtheit. Nachdem sie sie in einer großangelegten öffentlichen Plaudersitzung getroffen hatte, lud sie sie zu einem privaten Gespräch ein. Sie erfuhr, daß Joan Neurologin war, Ende zwanzig, in New York lebte und nach einem Autounfall entstellt, behindert und stumm geblieben war. Der betrunkene Täter hatte Fahrerflucht begangen. Joans Pfleger hatte ihr einen Computer, ein Modem und eine Mitgliedschaft bei CompuServe besorgt, wo sie sofort aufgeblüht war. Van Gelde r zitierte viele von Joans Freunden und berichtete, daß Joan nicht nur für Hunderte von Leuten eine Quelle der Klugheit und menschlicher Wärme war, sondern sogar eine Art Online-Charisma hatte. Joan sprach die Menschen in einer besonderen Weise an, gewann sehr schnell ihr Vertrauen und half ihnen mit vielen wertvollen Ratschlägen, besonders andere behinderte Frauen. Sie änderte das Leben der Menschen. Daher war es ein Schock für die CB-Gemeinschaft, als Joan enttarnt wurde u nd sich herausstellte, daß sie IRL weder behindert noch entstellt oder taub war und auch nicht weiblichen Geschlechts. Joan war ein New Yorker Psychiater, Alex, der von seinen eigenen Experimenten besessen war, davon, als Frau behandelt zu werden un d an Frauenfreundschaften teilzuhaben.

Die wütende Reaktion, die auf Joans Enttarnung folgte, bezog sich zunächst auf die Zerstörung der direkten Bekanntschaften Joans, Freundschaften, deren enge Vertrautheit auf perfekter Täuschung beruhte. Es gab jedoch auch noch den Betr ug, der in dem indirekten Angriff auf das Vertrauen bestand, das für jede Gruppe essentiell ist, die sich als Gemeinschaft versteht. Van Gelder formulierte dies so: «Sogar jene, die Joan kaum kannten, fühlten sich von Alex' Täuschung betrof fen - und irgendwie betrogen. Viele von uns Online-Leuten glauben, daß wir eine utopische Gemeinschaft der Zukunft darstellen, und Alex' Experiment machte uns allen deutlich, daß Technologie nicht vor Betrug schützt. Wir verloren unsere U nschuld, wenn nicht sogar unseren Glauben.» Van Gelder zitierte eine andere Frau, eine der besten FreundInnen Joans, die dem Interview nur zustimmte, weil sie folgendes deutlich machen wollte: «Obwohl ich glaube, daß es ein wunderbares Medium ist, i st es dennoch gefährlich, und es ist für Frauen gefährlicher als für Männer. Männer sind in dieser Gesellschaft mehr auf diese Art von Schwindel vorbereitet, während Frauen so disponiert werden, daß andere von ihre n Zweifeln profitieren können.»

Ich persönlich finde, daß die wichtige Erkenntnis darin besteht, daß CMC nicht vor Betrug schützt. Diese Erkenntnis kann für die vielen Menschen, die gerade erst in Cyberspace heimisch werden, eine wichtige Immunisierung gegen s eine Gefahren bedeuten. Daß sich in jeder virtuellen Gemeinschaft clevere Betrüger aufhalten, muß allgemeines Bewußtsein werden, bevor die Online-Gemeinschaft ein kollektives Immunsystem entwickeln kann. Menschen, die heute virtuell en Gemeinschaften beitreten, werden kaum formelle Regeln mitgeteilt, die sie auf die Feinheiten von Online-Beziehungen, wie Identitätsschwindel, vorbereiten würden. Die beste Antwort der Online-Welt wäre es, Normen zu formulieren und zu ver breiten, so daß Neulinge sich die dunkleren Seiten der Chance klarmachen könnten, Freunde zu finden, die man nicht sehen kann. Obwohl die CMC-Technologie ein Mittel an die Hand gibt, andere zu täuschen, hat doch der besondere Stellenwert, den die Geschlechterrollen und die Vortäuschung eines anderen Geschlechts haben, seine Ursachen in sozialen Gegebenheiten, die weit über die Technologie hinausgehen, die sie ins Rampenlicht stellt. Dennoch ist die Möglichkeit des Betrugs Ko nstruktionsprinzip des Mediums. Wenn Entdecker von Cyberspace dies ignorieren, so tun sie dies auf eigene Gefahr.

Van Gelders Artikel ist vor fast einem Jahrzehnt erschienen, und es ist mehr als zehn Jahre her, daß Sue aus MUDl enttarnt wurde. Vortäuschung eines anderen Geschlechts ist so häufig, daß Darstellern, die sich als Frau präsentie ren, in der Regel unterstellt wird, daß sie lügen, bis sie das Gegenteil beweisen können. Pavel Curtis stellte 1992 in einern Aufsatz Vermutungen an, warum die virtuellen Geschlechtsumwandlungen bleibendes Phänomen der MUDs sind:

Es ist offensichtlich, daß die große Mehrzahl der Spieler männlich ist, und die Mehrheit von ihnen präsentiert sich auch so. Einige Männer nutzen jedoch die Tatsache aus, daß Frauen in MUDs relativ selten anzutreffen sind, und präsentieren sich als Frauen, um sich bis zu einem gewissen Grad aus der Masse herauszuheben. Einige tun dies nur aus Spaß daran, andere zu täuschen, doch andere gehen so weit zu versuchen, andere Spieler, die sich männlich pr&au ml;sentieren, in explizit sexuelle Gespräche und Interaktionen zu verwickeln. Dies ist in der Tat derart verbreitet, daß es naheliegend ist, jeden flirtenden Spieler, der sich als Frau präsentiert, für jemanden zu halten, der im reale n Leben ein Mann ist. Daher werden diese Spielerinnen oft verachtet. Einige MUD-Spieler haben mir gegenüber die Vermutung geäußert, daß in transvestierenden Flirts vielleicht Männer ihre eigenen (auch latenten) homosexuellen Bed ürfnisse oder Phantasien ausleben und die perfekte Anonymität der MUD-Umgebungen ausnutzen, um auszuprobieren, wie es ist, sich anderen Männern zu nähern. Ich habe diese Art von Gesprächen nie persönlich erlebt und noch wenig er die Gelegenheit gehabt, die Motive der Spieler zu ergründen, doch scheint mir diese Theorie plausibel zu sein, wenn man an all die anderen Formen denkt, in denen die Anonymität der MUDs es Menschen ermöglicht, ihre Hemmungen zu über winden. Andere Männer präsentieren sich als Frauen eher aus Neugier, als um zu betrügen; sie möchten erleben, «wie die andere Hälfte lebt», wie es ist, in einer Gemeinschaft als weibliches Wesen behandelt zu werden. Nach allem, wa s ich gehört habe, sind diese Experimente sehr erfolgreich. Spieler, die sich als Frauen präsentieren, haben mir erzählt, daß sie häufig sowohl Belästigungen ausgesetzt sind, als auch bevorzugt werden. Einer berichtete, da&s zlig; er beobachtet hatte, wie zwei neue Spieler im MUD ankamen, der eine präsentierte sich als Frau, der andere als Mann. Die anderen Spieler im Raum begannen sofort eine Unterhaltung mit der angeblichen Frau und boten ihr an, sie herumzuführen , während sie den Mann vollständig ignorierten und er sich allein zurechtfinden mußte. Und andererseitswohl hauptsächlich deswegen, weil so viele männliche Spieler sich als Frauen ausgeben - berichten viele Spielerinnen, daß ; sie häufig (und manchmal recht aggressiv) herausgefordert werden, zu «beweisen», daß sie wirklich weiblichen Geschlechts sind. Soweit ich weiß, werden männliche Darsteller, wenn überhaupt, kaum herausgefordert, einen entsprech enden Beweis anzutreten.

IRL-Romanzen, manchmal sogar über Kontinente hinweg, sind in MUD-Kreisen keine Seltenheit. Auch Online-Ehen, mit und ohne Hochzeiten der wirklichen Personen, sind nichts Neues. In allen Teilen der Welt gibt es heute Menschen, die miteinander verheira tet sind, weil sie sich im MUD kennengelernt und ineinander verliebt haben, bevor sie sich von Angesicht zu Angesicht gesehen hatten. Die Technik, die Scheidungen verursacht, kann die Menschen auch verbinden.

Warum tun die Leute so, als wären sie Darsteller einer Fernsehserie? Der internationale, generationenübergreifende Kult der Star-Trekking-Enthusiasten, der Trekkies, ist vielleicht die bekannteste «Fan-Kultur» der realen Welt. Die Fans geben New sletters (Rundschreiben) und Fanzines (Fan-Magazine) heraus und veranstalten Kongresse. In der Fernsehsendung «Saturday Night Live» machte man sich über sie lustig, als William Shatner, der den Captain Kirk in Raumschiff Enterprise spielte, einem fik tiven Auditorium eines fiktiven Trekky-Kongresses empfahl, «sich dem Leben zu stellen».

Eine ehrliche Antwort auf die Frage, ob «diese Leute wirklich leben» lautet, daß den meisten Menschen kein besonders glanzvolles Leben geboten wird. Sie arbeiten und assistieren, sie sind einsam oder verängstigt, schüchtern oder unattrakti v oder sie halten sich dafür. Oder sie sind einfach anders. An dem Phänomen der «Fans» wird deutlich, daß nicht jeder ein Leben führen will, wie es vom Mainstream definiert wird; manche Leute steigen einfach aus und versuchen, ein alt ernatives Leben zu führen. Der Deadhead-Kult würdigt diesen Mangel an Konformität mit den normalen gesellschaftlichen Erwartungen als «misfit power», Stärke der Unangepaßten. Anhand welcher Kriterien kann beurteilt werden, ob ein e Fan-Kultur konstruktiv und gemeinschaftsbildend ist oder pathologischer Eskapismus, und wer spricht das Urteil? In Studentenkreisen werden diese Fragen bei der Auseinandersetzung mit Rezipiententheorien lebhaft diskutiert.

Auf das Phänomen der Fan-Kulturen wurde ich von Amy Bruckman aufmerksam gemacht, als ich nach Gründen forschte, warum so viele Menschen vom MUD fasziniert, manche sogar davon besessen sind. In ihrer Magisterarbeit «ldentity Workshops» (Identit&a uml;tswerkstätten) zitiert Bruckman aus der Arbeit von Henry Jenkins, der sich mit Fan-Kulturen beschäftigt hat und liefert damit einen Beitrag für das Verständnis des harten Kerns der MUD-Kultur und ihrer aktuellen Anziehungskraft.

Warum sind diese fiktiven Welten so beliebt? Fans von Raumschiff Enterprise fahren zu Kongressen, schreiben Geschichten und Romane, machen Videos und schreiben Lieder über die Raumschiff Enterprise-Welt. In seiner Arbeit «Schreibtisch-Wilderer, Ferns eh-Fans und die Kultur der Mitbestimmung» analysiert Henry Jenkins die Fan-Kultur unter besonderer Berücksichtigung der Lese- und Schreibgewohnheiten von Fans. Wie die MUDs ist auch die Welt der Fan-Kulturen eine alternative Realität, die viele der Teilnehmer als erheblich fesselnder empfinden als ihre profanen Lebensumstände. Die Zusammenfassung des Artikels über die Schreibtisch-Wilderer trägt die Überschrift «'In meiner Wochenendwelt...': Revision der Urteile über Fan Kulturen» und als Motto das folgende Epigramm eines Fans. Sie schreibt:

Eine Stunde in einer Scheinwelt
In dieser freundlichen Kongreßhalle
Mein Kopf ist frei, zu denken
Und ich fühle iriternsiv
Eine Vertrautheit, niegefunden
In ihren stummen Räumen
In einem Jahr oder mehr
In dem, was sie Realität nennen
In meiner Wochenendwelt
Die sie Scheinwelt nennen
Treffe ich jene, die mit mir
Meine Visionen teilen.
In ihrem Real-Time-Leben
Von dem sie sagen, daß es real sei
Haben die Dinge, die ihnen wichtig sind
Für mich keine Realität

Jenkins sagt zu diesem Lied eines Fans, daß es «ihre Erkenntnis ausdrückt, daß Fan-Kulturen nicht so sehr der Realitätsflucht dienen, sondern eine alternative Realität sind, die humanere und demokratischere Werte hat als die rea le Gesellschaft.» Die Autorin des Liedes «zieht Kraft und Selbstbewußtsein aus der Zeit, die sie in der Fan-Kultur verbringt. Fan zu sein hilft ihr dabei, angesichts der Unwürde und Einsamkeit des Alltags psychisch stabil zu bleiben.»

Bruckman schreibt, daß «Jenkins These gewagt» sei und sie nicht wisse ob «die Aussage auf Fan-Kulturen zutrifft oder auf die Welt des MUDs übertragbar ist. Es ist jedoch wichtig, zu erkennen, daß Urteile darüber ob jemand seine Zeit nützlich verbringt, Werturteile sind. Oft maskieren sie lediglich einen Geschmack, und ihre politischen und ethischen Implikationen müssen in Frage gestellt werden.» Deutlich wird dies auch, wenn man sich einmal vorstellt, daß die Oberschi cht des elisabethanischen England sich totgelacht hätte, wenn jemand gesagt hätte, daß der vulgäre Shakespeare Jahrhunderte später als großer Dichter anerkannt sein würde; wer kann behaupten, daß MUDs und andere außerirdische Vorposten, wie die Fan-Kulturen, nicht genauso legitim sind wie das elisabethanische Theater? Shakespeare ist wegen seiner Erkenntnisse und seiner Sprachgewalt in die Weltgeschichte des Theaters eingegangen und nicht, weil seine Zeitge nossen ihn als «großen Künstler» beurteilten, der dem «guten Geschmack» entsprach.

Ein anderer Beobachter der gesellschaftlichen Entwicklung, Kenneth J. Gergin, betrachtet die Art, wie die Kommunikationstechnologie die menschliche Psyche verändert, allgemeiner. Er verwendet den Begriff «Technologien der sozialen Übersätti gung», um die von den Medien vorangetriebene Hektik in unseren zwischenmenschlichen Beziehungen zu kennzeichnen. In 'Das übersättigte Ich: Identitätsdilemmas der Gegenwart' argumentiert er, daß die modernen Kommunikationsmedien den Du rchschnittsmenschen mit den «Meinungen, Werten und Lebensstilen anderer» konfrontieren. Es ist offensichtlich, daß viele von uns täglich per Telefon, Fax, und EMail mit mehr Menschen kommunizieren, als dies unsere Urgroßeltern in einem Mo nat, Jahr oder gar Leben getan haben. Nach Gergin ist die soziale Übersättigung Folge davon, daß wir die Identitäten von mehr Menschen internalisieren, als dies jemals andere Menschen getan haben. Gergin behauptet, daß unser Ich von vielen anderen «bevölkert» wird.

Ich weiß nicht, ob Kenneth J. Gergin jemals von MUDs gehört hat, aber der folgende Abschnitt kann als weiterer Schlüssel dienen, um herauszufinden, welche Änderungen der menschlichen Persönlichkeit von den MUDs reflektiert werden :

Soziale Übersättigung entsteht, wenn die Tage mit einer ständig wachsenden großen Zahl verschiedener intensiver Beziehungen überfüllt sind. Um das Ausmaß der kulturellen Veränderungen und die wahrscheinliche zuk&u uml;nftige Entwicklung vollständig zu erfassen, muß man sich zunächst auf den technologischen Kontext konzentrieren, weil eine Vielzahl technologischer Innovationen zu einer enormen Inflation der Beziehungen geführt hat.... Währe nd die soziale Übersättigung voranschreitet, werden wir im wahrsten Sinne des Wortes zu Karrikaturen, zu Imitationen voneinander. Im Gedächtnis bleiben weitere Muster des Ich-Seins. Sobald die Bedingungen günstig sind, können wir diese Muster aktivieren. Jeder von uns wird der andere, als Repräsentant oder als Ersatz. Allgemeiner ausgedrückt, ist in diesem Jahrhundert unser Selbst zunehmend von den Charakteren anderer bevölkert worden. Wir sind nicht eins, auch nich t wenige, sondern wir haben, wie Walt Whitman sagte, «vielfache Identitäten». Wir erscheinen einander als einzelne Identitäten, einzigartig und aus einem einheitlichen Stoff gernacht. Mit der sozialen Übersättigung geht jedoch einher, daß wir zu Trägern einer großen Zahl von Potentialen werden - eine Blues-Sängerin zu sein, ein Zigeuner, ein Aristokrat oder ein Krimineller. All diese Identitäten sind latent und werden unter bestimmten Umständen zum Leben erweckt.

Im MUD werden diese latenten Identitäten von der Technologie freigesetzt. Und wie lebendig sie sind!

Weil sich das Medium in einer außerordentlich kreativen Entwicklung befindet, ist es gefährlich, die Zukunft der MUDs aus den aktuellen Realisierungen der Technologie abzuleiten. Die sozialen und AbenteuerMUDs sind lediglich die Ahnen. Niemand kann vorhersagen, welche Varianten und Mutanten diese Technologie einige Generationen später hervorgebracht haben wird.

Im Sommer 1992 begann im PARC von Xerox, wo Pavel Curtis sein LambdaMOO-Experiment durchgeführt hatte, das Projekt Jupiter - ein Mulitirnedia -, sich international ausbreitender MUD, gedacht als Arbeitsmittel für Entwickler der virtuellen Arbeit splätze der Zukunft.

Curtis ist derzeit damit beschäftigt, den LambdaMOO-Server anzupassen, um ihn für ein internationales Telekonferenz- und Bilderdatenbank-System für Astronomen zu benutzen. Dies würde es den Wissenschaftlern ermöglichen, weltweit O nline-Präsentationen ihrer Forschungsergebnisse zu geben, mit Dias und Illustrationen, die auf dem Bildschirm jedes Teilnehmers erscheinen. «Dasselbe Verfahren könnte auch verwendet werden, um für Wissenschaftler anderer Richtungen Online-T reffpunkte zu schaffen, ebenso wie für andere nicht wissenschaftliche Gemeinschaften», schrieb Curtis. «lch glaube nicht, daß wir die einzigen sind, die in dieser Richtung forschen. In naher Zukunft, höchstens ein paar Jahren, werden solch e spezialisierten virtuellen Realitäten zumindest in der akademischen Gemeinschaft alltäglich und allgemein akzeptiert sein.»

Ein weiterer Forschungsansatz im PARC besteht darin, virtuelle Realität zu verwenden, um die geographischen Barrieren großer Gebäude oder zwischen den Menschen zu überwinden, die in zunehmenden Maße zuhause arbeiten, indem MUDs durch digitalisierte Stimmen ergänzt werden. Befinden sich zwei Leute in demselben virtuellen Raum, werden die Audio-Kanäle ihrer Computer miteinander verbunden.

Xerox-PARC, in dem in den siebziger Jahren PCs und lokale Netze erfunden wurden, hat in Cambridge, England, ein Schwesterforschungsinstitut, das genau in dieses große Projekt paßt, zukünftig die XeroxForscher weltweit in einem virtuellen Multimedia-Büro zusammenzuschließen.

Als ich 1992 EuroPARC in Cambridge besuchte, bekam ich einen Eindruck davon, was es bedeutet, die Netzwelt auf Video-Niveau zu heben. An dem Tag führte mich Paul Dourish herum, Informatiker aus Schottland, Deadhead und Netz-Enthusiast, so daß w ir zwei sich überschneidende Kult-Themen hatten, über die wir plaudern konnten, während ich mich dort akklimatisierte. In seinem Büro saß Paul vor einem riesigen Bildschirm, auf dem diverse Fenster geöffnet waren, die Dokume nte zeigten und Teile des Netzes. Links davon stand ein weiterer, fast genauso großer Bildschirm, auf dem ein Videobild zu sehen war. Als wir das Büro betraten, war der Gemeinschaftsraum des Labors zu sehen, der sich ein Stockwerk tiefer befand . Über dem Videobildschirm war das Objektiv einer Kamera zu sehen.

Ungefähr eine Minute, nachdem wir begonnen hatten, uns zu unterhalten, hörten wir ein knarzendes Geräusch, wie wenn eine sehr alte Holztür geöffnet würde. Er erklärte mir, daß dies das gebräuchlichste einer Re ihe von Geräuschen war, die den EuroPARC-Forschern zur Verfügung standen, um zu signalisieren, daß sie von jemandem beobachtet wurden.

«Es ist wichtig, etwas so Indiskretes wie Video-Technologie in deinem Büro unter sozialer Kontrolle zu halten», erklärte mir Dourish und rief ein Menü mit Kommunikations-Optionen auf. Auf dem Bildschirm sah ich eine Liste von Namen. Einige waren durch eine kleine Marke gekennzeichnet.

«In dem Dienstplan der Leute, die zur Technik Zugang haben, kann ich diejenigen auswählen, die bei mir zur Tür reingucken dürfen», fuhr Dourish fort. «Reingucken» bedeutet, daß die autorisierte Person, wann immer sie will, zwei Sekund en lang ins Büro gucken darf. Es entspricht dem kurzen Blick durch die Bürotür, um zu sehen, ob man beschäftigt ist oder Zeit für ein Gespräch hat. Er zeigte mir das Menü, aus dem er das knarzende Geräusch ausgew&au ml;hlt hatte, das ihn darauf aufmerksarn machte, daß jemand reinguckte. Und er zeigte mir das ultimative Mittel, um soziale Kontrolle über die Technologie auf seinem Schreibtisch auszuüben - die Schutzkappe für das Objektiv.

Das nächste Mal, als es knarzte, sah Dourish auf den Bildschirm unter der Kamera und begann zu sprechen. Die Szene auf dem Bildschirm wechselte von der Einstellung, die den Gemeinschaftssraum gezeigt hatte, zu einer Nahaufnahme einer jungen Frau. Sie redeten über ein Dokument, an dem sie arbeiteten. Während sie miteinander sprachen, sahen sie sich auch das Dokument auf ihren Computer-Bildschirmen an. Paul stellte mich vor. Ich sah auf die Videokamera, lächelte und sagte hallo. Wäh rend ich mit ihr sprach, sah ich ihr Gesicht. Ihre Unterhaltung über einen bestimmten Abschnitt ihres Dokuments dauerte ungefähr dreißig Sekunden. Dann verabschiedeten sie sich und Paul wandte sich wieder mir zu. Auf dem Video-Bildschirm g ab es wieder einen Szenenwechsel zum Gemeinschaftsraum.

Alle zehn Minuten gab es ein anderes, klickendes Geräusch, wie von dem Auslöser einer Kamera. Das war die Kamera, die in regelmäßigen Abständen ein Standbild quer über den Atlantischen Ozean und den Nordamerikanischen Kontin ent zum Schwesterforschungsinstitut von Xerox in Palo Alto übermittelte. Diese Standbilder waren das erste Stadium einer zukünftigen vollständigen Videoverbindung.

Eines der Motive für den Aufwand, die elektronische Gruppenkommunikation durch einen Videokanal zu ergänzen, ergibt sich aus der Prämisse, daß dadurch die informelle, zufällige Konversation, wie sie sich auf Fluren oder bei der K affeemaschine ergibt, stimuliert werden kann, und daß der Raum, wo sie stattfindet, auf alle Plätze ausgedehnt wird, an denen sich die Kollegen gerade befinden mögen. In gewisser Weise wird versucht, «informelle öffentliche Räume », wie der Soziologe Ray Oldenburg sie nennt, synthetisch herzustellen. Ein anderes Experiment, das kürzlich bei Xerox durchgeführt wurde, bestand darin, einen Bildschirm von der Größe einer Wand im Gemeinschaftsraum des Labors in Pal o Alto mit dem Gemeinschaftsraum eines Schwesterlabors in Oregon zu verbinden. Die Leute in Oregon konnten IRL durch ihren Raum gehen, auf dem Bildschirm sehen, daß jemand bekannter in der kalifornischen Hälfte des Gemeinschaftsraums war, und e ine Unterhaltung begInnen.

Dieses Experiment habe nicht ich gesehen, sondern der Computerexperte John Barlow. Beide sind wir daran interessiert, die Computerkonferenzen durch Video zu ergänzen. Daß eine gewisse Unbestimmtheit und Mißtrauen zum Wesen von Cyberspace gehören, liegt daran, daß der Kommunikation Körpersprache und Mimik abgehen. Mißverständnisse bringen Gruppendiskussionen durcheinander und vergiften persönliche Online-Beziehungen; dies könnte vielleicht vermieden wer den, wenn man das Online-Vokabular durch eine hochgezogene Augenbraue oder einen scherzhaften Tonfall ergänzen könnte. Barlow erzählte mir, daß seine diesbezügliche Hoffnung ein wenig enttäuscht worden sei. Irgendetwas schie n zu fehlen. Er teilte seine Enttäuschung dem Informatiker mit, der ihm das Experiment demonstrierte. Dieser Wissenschaftler, ein gebürtiger Inder, lächelte und sagte ihm, daß das Video die «Prana» - wörtlich der Atem -, die Lebe nskraft der anderen Menschen nicht übermitteln kann. Wenn man daran denkt, daß sich andere Kommunikationsmedien stets als zweischneidig erwiesen haben, sollte man so umsichtig sein, anzunehmen, daß die Ergänzung der Computerkonferenz en durch Video Vor- und Nachteile für die Gruppenkommunikation haben wird.

Das Projekt Jupiter, das aus dem von Curtis beschriebenen Multimedia-MUD hervorging, ist als allgemeiner Raum gedacht, in dem die individuellen informellen Räume mit Hilfe von Stimme, Text und Video zu einem virtuellen Büroraum ausgedehnt werden können. Die MUDStruktur bindet die verschiedenen Kommunikationskanäle zu einer einheitlichen Architektur zusammen. Wenn in MUDs eigene Räume geschaffen werden können, dann ist es auch möglich, für bestimmte Projekte speziell e Räume zu schaffen; dort können die Konferenzmaterialien aufbewahrt werden, können die Kollegen ihre Ergebnisse und Probleme auf einer virtuellen Wandtafel illustrieren, kann man kurz reinschauen, um ein wenig zu plaudern. Der Darsteller w andert auf einer Karte herum, die den MUD-Raum darstellt, kann realen Kontakt mit jedem aufnehmen, der sich in demselben virtuellen Raum befindet, und hat zugleich die Möglichkeit, Wörter und Grafiken in den Gemeinschaftsraum des MUD zu schicken . Mit diesem Projekt versuchen die PARC-Forscher, verschiedene Ziele zu erreichen. Sie erarbeiten ein Modell von Cyberspace, experimentieren mit Erweiterungen der realen Arbeitsräume durch Cyberspace und benutzen die neu geschaffenen und kombinierten Medien in guter alter Forschungstradition bei ihrer alltäglichen Arbeit. Zur Zeit tauchen die ersten Multimedia-MUDs auf. Die ersten, von denen ich hörte, entstanden in Skandinavien und erfordern leistungsstarke Arbeitsplatzrechner und Hochgesc hwindigkeitsverbindungen zu Internet. Man kann seinen Darsteller durch ein visuelles Modell eines Kerkers oder einer Raumkolonie führen und sogar eigene sichtbare Welten schaffen und sie mit anderen Teilnehmern gemeinsam benutzen. Multimedia-MUDs sin d noch zu neu, als daß genügend Beobachtungen gemacht worden wären, die ausgewertet werden könnten. Die Menschen können sich jetzt sichtbar ausdrücken, mit Computerdiensten, die Grafiken generieren, und den Welten, die auf G estaltung durch Worte beschränkt waren, neue Elemente hinzufügen. Die Text-Welten werden sicherlich weiter gedeihen, wenn man bedenkt, daß es viel einfacher ist, eine ganze Zivilisation mit Worten zu konstruieren als mit Grafik. Und ob die Multimedia-MUDs besondere Spezifika entwickeln werden, bleibt abzuwarten.

Nachdem Amy Bruckman die Forschungen zu ihren «ldentitätsWerkstätten» abgeschlossen hatte, führte sie ihre professionelle Untersuchung des Mediums MUD fort, indem sie gemeinsam mit einem Kollegen des MIT-Media-Lab MediaMOO schuf, ein weiter es MUD für die ernsthafte Kommunikation. Amy Bruckman entdeckte einen weiteren Bereich in ihrem Leben, in dem ein Kommunikationsmedium mit den Charakteristika eines MUD einem ernsthaften Zweck dienen und zugleich der Unterhaltungswert und der inforrn elle Charakter des MUD erhalten werden konnte - die virtuellen Gemeinschaften, die sich aufgrund gemeinsamer Interessen oder gleicher Berufe bilden.

Wissenschaftler und Spezialisten in den Unternehmen treffen sich ein oder zweimal im Jahr auf Konferenzen und Kongressen, lesen dieselben Fachzeitschriften und elektronischen Journale und korrespondieren miteinander, eine alltägliche informelle, inte rkontinentale Kommunikation dieser Interessensgemeinschaften gibt es jedoch nicht. Warum sollte man nicht einen MUD entwerfen, in dem die informellen Konversationen fortgesetzt werden konnten, die Konferenzen einen so wichtigen Stellenwert in der wissensc haftlichen Diskussion verleihen? Die «professionelle virtuelle Gemeinschaft», an die Amy Bruckman und ihr Kollege Mitchel Resnick dachten, war eine Gemeinschaft von Leuten wie sie selbst - Medienforscher.

MediaMOO wurde 1993 angekündigt. In dem Konzept für einen Vortrag, in dem MediaMOO vorgestellt werden sollte, beschreiben Bruckman und Resnick das Verhältnis zwischen dem Aufbau des MUD und den sozialen Zielen des Projekts.

MediaMOO ist eine virtuelle Version des Media Lab von MIT.... Die Entwickler haben absichtlich nicht das gesamte Media Lab abgebildet, sondern lediglich die öffentlichen Räume, die Flure, das Treppenhaus, die Aufzüge und ein paar interessan te öffentliche Plätze. Der Rest kann von der virtuellen Gemeinschaft selbst gestaltet werden. Dies ist kein Sachzwang gewesen, sondern eine absichtsvolle Entscheidung. Die Zusammenarbeit beim Aufbau einer gemeinsamen Welt schafft eine Grundlage für Interaktion und Kommunikation.

Konferenzbesucher haben nicht nur gemeinsame Interessen, sondern teilen auch Räume und Aktivitäten, die ebenfalls Interaktion generieren.

Person A: Kannst du mir sagen, wie ich in den Ballsaal komme?
Person B: Ich gehe gerade in dieselbe Richtung. Hier gehts lang.
Person A: Danke!
Person B: Wie ich sehe, sind sie von Firma X...
Person C: Ist dieser Platz frei?
Person D: Ja.
Person C: Ich bin überrascht, daß es so voll ist.
Person D: Naja, Y ist ein wirklich guter Redner....

Eine virtuelle Umgebung, die auf Text basiert, kann sowohl gemeinsam genutzte Räume (die virtuelle Welt), als auch gemeinsame Aktivitäten (das Erkunden und Ausbauen der virtuellen Welt) enthalten. Es ist Konvention, daß es passend ist, wie bei einer Kaffepause auf einer Konferenz mit Fremden, deren Namen man ihren Namensschildern entnehmen kann, ein Gespräch anzufangen. In den meisten MU*s sind die Charaktere anonym und es gibt keine Möglichkeit, die reale Person des Spielers auf die virtuelle Person abzubilden. In MediaMOO besteht die Wahl, ob die Spieler anonym bleiben oder die Darsteller mit den realen Personen, die hinter ihnen stehen, identifiziert werden können. Außerdem werden die Anwender aufgefordert, eine Bes chreibung ihrer wissenschaftlichen Interessen mit sich zu führen. Es sind also mehr Informationen verfügbar als ein Namensschild, und sie können diskret abgerufen werden - die Person wird nicht informiert, wenn man die Beschreibung ihrer wi ssenschaftlichen Interessen anschaut, und man ist daher nicht gezwungen, sich darüber zu unterhalten.

Die Architekten von MediaMOO beschlossen, den MUD am 20. Januar 1993 mit einem Ball zu eröffnen. Eine Woche vorher fuhr ich auf Einladung von Amy Bruckman zu MIT, und entwarf ein paar Kostüme für das festliche Ereignis. Zuerst mußte i ch den Weg vom Ballsaal zur Garderobe finden, die sich im realen Media Lab auf der vorletzten Etage befindet. Manchmal bildet die Topologie von MediaMOO die realen Räume des Media-Lab-Gebäudes ab, und manchmal, wie beim Ballsaal, gibt es MediaMO O-spezifische Cyberspace-Erweiterungen. Nachdem ich den Weg zum Ballsaal gefunden hatte, brachte Amy mir die Zauberformel bei, die ich brauchte, um die Kostüme zu entwerfen. Jedes so geschaffene Kostüm wurde in die Garderobe gebracht. Als die si ebenundsechzig Gäste des Balls, die aus fünf Kontinenten zusammenkamen, eintrafen, wurden sie eingeladen, in die Garderobe zu gehen und den «search»-Befehl (suchen) zu verwenden, um sich eins der Kostüme auszusuchen. Ich war nur einer der v ielen Kostüm-Designer und trug zu der Sammlung ein grün-orangefarbenes paisley-gemustertes, zweireihiges Dinnerjacket bei, einen Mikrofaser-Smoking mit Klettverschlüssen und einen kunterbunten Lendenschurz.

Außer meinem Kostüm konnten die anderen Gäste des Balls meinen wirklichen Narnen sehen, daß ich über virtuelle Gemeinschaften schreibe und meine EMail-Adresse. Obwohl es eine Eröffnungsparty gab und die Atmosphäre info rmell ist, besteht MediaMOO aus Leuten, die virtuelle Gemeinschaften wissenschaftlich untersuchen. Daher hatte dieses «gesellschaftliche» Ereignis für jeden eine intellektuelle und berufliche Bedeutung.

Immer, wenn Menschen ein neues Kommunikationsmedium derart attraktiv finden, daß sie zum Teil besessen davon sind, müssen mehrere Fragen geklärt werden: Wie ist es heute um die Menschen und die Art, wie sie interagieren, bestellt, daß ; so viele Menschen kommunikationssüchtig sind? Welche Verantwortung haben Institutionen wie Universitäten bei der Reglementierung des Online-Verhaltens besessener Anwender, und welche Rechte auf Schutz ihrer Privatsphäre haben die Studente n? Welche Kriterien müssen angewendet werden, um ein bestimmtes Verhalten als Besessenheit beurteilen zu können? Auf die Frage nach den Werten, die der Umgang mit dem MUD impliziert, habe ich keine Antwort, aber ich weiß, daß die Pro blematik vielschichtig ist und grundlegende Fragen zur Identität des modernen Menschen und zu seinen zwischenmenschlichen Beziehungen im Informationszeitalter aufwirft.


UNItopia (mudadm@UNItopia.de)