Man geht nicht ohne Avatar: Die persönlich gestalteten Spielwesen erleben einen Boom sondergleichen. Im allgemeinen Wirbel um das Internet sind diese virtuellen Handlungsreisenden die ideale Fusion mehrerer Entwicklungsstränge, sind 3D-Animation, Computerspiel, Chat-Ecke und Kaufhilfe in einem. Avatare heiraten Avatare, gehen in Kirchen, die von Avatar-Seelsorgern betrieben werden. Avatare strollen durch Cybermalls, in denen die Waren umkreiselt werden können. Bank-Avatare helfen bei der Abfrage des (realen) Bankkontos, und Show-Avatare spielen die Oscar-Verleihung im Web auf ihre Art und Weise durch. Besonders gewitzte Sozialforscher sehen im Avatar gar den neuen Sozialisationstyp aufdämmern.
Nichts ist unmöglich
Ein Avatar ist eine Spielfigur, die sich je nach Software mehr oder minder
phantasievoll am Computer zusammenbauen läßt. Dicke erschaffen ihren
Tarzan oder unterziehen sich gleich einer kompletten Transformation und
gehen als Marylin auf die Cyberpiste, Vertreter mit Tierköpfen oder einem
schlichten Bügeleisen auf dem Hals gehören zum virtuellen Alltag.
Allen Avataren ist gemein, daß sie sich in einer Welt bewegen, die eigens
für sie geschaffen wurde. In solchen Welten wird viel gequatscht, aber
auch getauscht und gebaut, je nach der benutzten Software und den geltenden
Regeln der Welt. Der Avatar-Boom profitiert ganz entscheidend von den
hohen Übertragungsraten und den immer größer werdenden Festplatten. Und
er bildet erst den Anfang: Was passiert eigentlich, wenn jeder Arbeitsplatz
oder Heimcomputer seinen ständigen Anschluß an das Internet oder einen
Onlinedienst besitzt? Dies kann in fünf bis sechs Jahren der Regelfall
sein. Selbst das heutige Schmalband-ISDN für den Heimanwender kann mit
einem Router arbeiten, der fortlaufend die Verbindung zum Netz simuliert
und schnell öffnet, wenn sie gebraucht wird. Der Unterschied zum Zeittakt
ist enorm: Man geht einfach davon aus, daß der Service immer vorhanden ist.
Virtueller Zeitvertreib
Die Prognosen, wie der Fortschritt ausgenutzt werden kann, sind überaus
einfallslos. Von Video on Demand ist da die Rede, von laufend aktualisierten
Börsennews und anderen Nachrichten und von ungemein nützlichen Dingen.
Dabei spricht nichts gegen eine virtuelle Realität, in der man sich mit
seinesgleichen einfach nur zum Kaffeeplausch trifft. Die MIT-Forscherin Amy
Bruckman untersuchte Chat- und Spielesitzungen in den "Arbeitspausen" und
fand heraus, daß der schnelle Onlineausflug die Visite in einer Steh-Bar
oder Cafeteria ersetzen kann.
Esther Dyson, Guru der amerikanischen PC-Szene, skizziert in ihrem
Branchenblatt Release 1.0 ein Szenario, in dem sich Topmanager
verschiedener Firmen in einer virtuellen Handelswelt aufhalten und
Verträge abschließen. Last not least dürfen die virtuellen
Militärwelten wie Dive (Dismounted Infantry Simulated Environment) nicht
fehlen, in denen heute Kriegsführung
im großen Stil geübt werden kann. Aus ihnen werden Börsensysteme wie
VR-Traders entwickelt. Kurzum: Die virtuellen Welten mögen noch unbeholfen
aussehen, doch sie stellen in mehrfacher Hinsicht die Killeranwendung der
nächsten Pentiade.
Ave, Avatar!
Der Avatar ist eine Übernahme aus der hinduistischen Gedankenwelt. Dort
bezeichnet er die Materialisierung von Göttern, die auf die Erde hinabsteigen
und sich einen Körper zusammensetzen. Der Begriff wurde Anfang 1980 in den
Computerbereich übertragen, als Militärprogrammierer nach einem Begriff für
die menschlichen Artefakte in ihren Simulationsspielen suchten.
Der Avatar, wie er heute verstanden wird, hat eine ausgesprochen
friedliche Wurzel: Im Jahre 1989 hatte der Student James Aspnes die Nase
voll von den ewigen Schlachtereien der MUDs, der "Multiuser Dungeons and
Dragons". In solchen Computerspielen metzelte man mit Hingabe Drachen und
Monster nieder. Aspnes programmierte ein Szenario, in dem sterbliche
Menschen mit realen Problemen ihre Rollen spielten. Auch wenn sich diese
fiktive Mäntelchen umhängen konnten, begann eine überaus erfolgreiche
Absatzbewegung von den Metzeleien und Rollenspielen, in denen Realität
ausdrücklich verboten ist: In der Drachenwelt (ein MUD nach den Romanen
von Anne McCaffrey) stirbt, wer ein Wort aus der schnöden Jetztzeit tippt.
Aspnes Welt war textbasiert, ein System, in dem alle Mitspieler die von
ihnen geschaffenen Objekte wie auch die Aktionen und Reaktionen eintippen
mußten. Sein MUD benutzte das Internet, über das sich die verschiedensten
Menschen zum Mitkonstruieren der Kunstwelt einwählen konnten. 1992 erreichte
die sozial orientierte MUD-Form im Internet ihren ersten Höhepunkt: 207
Welten wurden weltweit gezählt. Auch heute noch erfreuen sich die MUDs und
MOOs, die MUSHes und nun auch die WOOs (Web-MOOs) ungebrochener Beliebtheit.
Die Heimat, Worlds Away
Die Ergänzung zum Text-Chat wurde in der MUD-Steinzeit anno 1980 konzipiert.
Damals grübelten die Programmierer Randall Farmer und Chip Morningstar bei
der Filmfirma Lucas Arts über Möglichkeiten, wie Personen mit dem Computer
Filmszenen nachspielen könnten -- Dreamworks SKG läßt grüßen. Heraus
kam Habitat (Heimat), eine Spielwelt mit einfacher Grafik.
Das Besondere an Habitat: Es war weit verbreitet auf den populären
Homecomputern wie Commodores C64, C128 und den Ataris; es wurde später
von Fujitsu Cultural Technologies aufgekauft und auf japanische
Spielconsolen portiert. Sehr erfolgreich lief Habitat unter dem Namen
"Club Caribe" auf Q-Link, dem Onlinedienst von Quantum Communication.
Dort spielten bis zu 15000 Teilnehmer fünf Jahre lang ihre Rollen, bis
Q-Link mit dem Untergang der Rechner seine Pforten schließen mußte -- als
America Online wiederauferstanden, setzte man radikal auf Mac- und auf
Windows-Systeme. Heute ist Habitat, um die erzählerischen Momente der MUDs
erweitert, mit 65000 registrierten Benutzern die größte Spielwelt ihrer
Art. Als Worlds Away kann sie über Compuserve erreicht werden, doch auch im
Internet ist der Ausbau geplant. Dort hält die Alphaworld der Worlds Inc.
den ersten Platz, der jedoch überall im Web Kolonien hat und daher schwer
abzuschätzen ist.
Stark im Kommen ist die Welt a la Microsoft mit ihrem V-Chat 1.0. Neben
den Interaktionswelten gibt es noch Systeme wie die Technosphere, die zur
Experimentalkunst gerechnet werden können. Kommerzielle Beachtung verdient
die Secure First Network Bank mit ihrem Avatar-Ansatz, mit dem auch bei
der Deutschen Bank experimentiert wird. Interessant ist auch das World Up
der Firma Sense 8, das Spezialisten für Netzwerkwartung um Remy Evard
entwickelt haben: Diese Software setzen mittlerweile Cisco und CA Unicenter
ein.
Faszination Rollenspiel
Läßt man die verschiedenen Spielregeln, Wettbewerbe, Werbeflächen und
Verkaufsstände beiseite, so treten die Gemeinsamkeiten in allen
Spielwelten schnell zu Tage. Die soziale Interaktion, das Rollenspiel und
das Experiment mit verschiedenen Rollen dominieren die Welten aller Bauart.
Fast alle Welten geben so etwas wie eine eigene Zeitung heraus, mitunter
über Anzeigen aus der Dreamscape (also der realen Welt) finanziert. Dann
gibt es Welten, in denen ein Priester-Avatar am Sonntag einen Gottesdienst
anbietet, der wiederum von anderen Avataren besucht wird. Einige
Gottesdienste orientieren sich an den Weltreligionen, andere arbeiten mit
Privatreligionen, doch immer wird ernsthaft und intensiv gebetet und
diskutiert.
Die Heirat unter Avataren ist eine gängige Form der Onlineliebe, und
selbst die nötigen Scheidungs-Avatare bieten ihre Dienste an.
Avatar-Psychologen helfen, wenn jemand beim Besuch der virtuellen Bar
ausfällig wurde. Und natürlich gibt es auch Ordnungshüter, die aber
üblicherweise als Acolytes (Meßdiener), Engel oder gute Geister
verniedlicht werden. Solche Acolytes sind wiederum Avatare, die mit
besonderen Rechten ausgestattet wurden, also weit eher Herren als Diener.
Selbst das Onlinebanking ist in dieser Form das Rollenspiel "Bankbesuch".
"Haltet den Dieb!"
Die Gemeinsamkeiten der Spielwelten gehen sehr weit: Als Rollenspiel
attraktiv, sind Regelverletzungen an der Tagesordnung und sorgen ihrerseits
für Gesprächsstoff. Und das nicht nur in den Spielbereichen, wie bei
Microsofts V-Chat, wo der Avatar "Bill Gates" schon heftig Prügel
einstecken mußte.
Als das PC Magazine auf der letzten Comdex seine "Technical Excellence
Awards" verlieh, wählte man den Weg der virtuellen Preisverleihung mit
der Software von Worlds Inc. Prompt suchten Hacker-Avatare die Zeremonie
heim, worauf der Moderator-Avatar die Eindringlinge jagen mußte und dabei
ein virtuelles "Haltet den Dieb!" brüllte. Auch die oft diskutierte
virtuelle Vergewaltigung des Mr. Bungle* hat längst ihr Gegenstück in
den Spielwelten gefunden. Unlängst wurde auf Worlds Away der Avatar
Headhunter Chieftain in das virtuelle Nichts (Void) verstoßen, weil er
den Kindersex propagierte (und obendrein den Diebstahl von Artefakten
einführte). Ihm half die Beteuerung nicht, daß es nur um Sex mit
Kinder-Avataren gehen würde.
* In der textorientierten Spielwelt Lambda-MOO hat Mr. Bungle zwei weibliche Teilnehmer in einem öffentlichen Raum vergewaltigt. Er beschrieb detailliert, was er mit den Figuren anstellte, und übertrug diese Beschreibungen auf die Spielrollen.
Spielwelten gehen an die Grenzen dessen, was im wirklichen Leben nicht mehr durchgespielt werden kann. Sie ähneln den Jagdveranstaltungen, bei denen sich die Schützen mit Farbkugeln bekleckern -- und sie werden mindestens ebenso ernsthaft betrieben. Sexuelle und soziale Probleme spielen die erste Geige. Schon die Programmierer von Habitat schlugen sich mit dem Problem herum, eine "saubere Welt" zu gestalten. Sie kamen beispielsweise auf die Lösung, daß Avatare nur stehen durften -- nun gibt es halt Sex im Stehen. Randall Farmer berichtet zu diesem Thema, wie mit der Einführung von Schußwaffen (die als unselige MUD-Erbschaft sonst überall verboten sind) eine bis dahin stabile Welt in Mord und Todschlag unterging. Eine andere, bis dahin "weiße" Welt löste sich auf, als der Programmierer verschiedene Hautfarben der Avatars zuließ (was wiederum dazu führte, daß das bekannte Spiel Simcity keine Hautfarben kennt).
Ein Fall für die Soziologen
Spielwelten als Experimental-Soziotope erregen natürlich das Interesse der
Soziologen und Psychologen in aller Welt. Amy Bruckman, Elizabeth Reid und
Allucquere Rosanne Stone gehören zu den bekannten Forscherinnen, die sich
mit diesem Thema beschäftigt haben.
In großem Stil aber lenkte erst das Buch von Sherry Turkle, Life
on the Screen: Identity in the Age of the Internet die Aufmerksamkeit
auf die Spielwelten. Selbst der Playboy oder Harper's Bazaar
rezensierten das Buch,
mit dem der diffuse Cyberspace mit einem Schlag hoffähig zu werden schien.
Turkle kletterte in die Sachbuchhitlisten, weil sie die Spielwelten und das
Internet plastisch auf den kleinsten Nenner brachte: Die Teilnehmer würden
für das nächste Jahrhundert üben, in dem die Fähigkeit
zum Rollenwechsel, zum Verständnis anderer realer und auch virtueller
Personen die wichtigste soziale Technik sein werde.
In ihrem Buch findet Turkle massenweise Menschen, die in den sozialen
Umgebungen einer Spielwelt außerordentlich engagiert sind und tolle
Lösungen für Konflikte finden. Doch vieles von dem, was Turkle
diagnostiziert, ist Schöndenken. In einem Interview zu diesem Buch, das
die Technological Review auf das Web gebracht hat, gesteht Turkle ihre
Hilflosigkeit: Wenn das Surfen und der Umgang mit Avataren im großen
Datenraum mit all seinen Facetten erst einmal so normal wie Autofahren
geworden seien, dann würde schon der Funken überspringen, erklärt sie da.
Phantasie offline?
Schluß mit lustig
Die kommerziellen Ansätze befinden sich noch in der Anlaufphase. Das gilt
für Microsofts Virtual World Group ebenso wie für Fujitsus Cultural
Technologies. Beide experimentieren vor allem damit, die Kinder in ihre
Welten zu holen. Bei Fujitsu bastelt man an Teo herum, einem sprechenden
Delphin mit Füßchen, der Kindern bei Schularbeiten in einer virtuellen
Schulwelt auf die Sprünge helfen soll.
In Anspielung an eine mißlungene Software von Microsoft werden solche
virtuelle Welten gerne als Online-Bobs kritisiert. In Japan hat das Konzept
schon gezündet. Dort ist Frankys World der Firma Future Pirates (ein
Joint-venture von Sony und Matsushita) eine laute und hektische Spielwelt,
die schon 60000 jugendliche aufgenommen haben soll. Virtuelle Welten sind
ideale Umgebungen für die expandierende Unterhaltungsindustrie Hollywoods,
da sie Spieleumgebungen anbieten, in denen eine Filmhandlung weiterlaufen
kann. Der Plan von Lucas Arts hat jetzt die technische Basis gefunden. Nach
dem "Buch zum Film" ist die "Welt zum Film" nur noch eine technische
Frage.
Was der Filmindustrie recht ist, ist dem Musikgeschäft nur billig. Marc
Canter von Canter Technologies plant bereits eine weltumspannende
Kneipenkette im Stil eines futuristischen Hard-Rock-Cafes, komplett mit
Live-Show und interaktiven Rave-Sessions, bei denen die Avatare mitrocken
können, Später, wenn die Rechner der Anwender etwas leistungsfähiger
geworden sind, soll die interaktive Band-Technologie hinzukommen, die Canter
mit seiner "Meet Media Band" propagiert.
Der Erfinder des Multimedia-Autorensystems Macromind Director programmierte
interaktive Musikstücke, bei denen der Zuhörer in den Text eingreifen kann.
Beim Szene-Hit "Undo Me" macht die Sängerin Allison Prince einen Mann an.
15 Antwortkombinationen sind möglich, bei denen das Musikvideo wie auch die
Musik verändert werden. Der Nachteil: "Undo Me" und andere Songs der
Ether-Rave-Technik erfordern eine Infrastruktur, die frühestens in fünf
Jahren erreicht sein wird. Bis dahin kann der Avatar nur mitklatschen.
Schöne Aussichten
Natürlich gibt es auch Anstrengungen, die Dinge zu retten, die bei der
Kommerzialisierung über Bord gehen können. So finanziert die ehrwürdige
BBC das Spielwelt-Projekt "The Digital Village". Koordiniert wird diese
virtuelle Stadt vom Schriftsteller Douglas Adams
(Per Anhalter durchs All),
der sich mit BBC-Autoren an dem Mix aus Fernsehen und virtueller Stadt
versucht. Im Beirat des Projekts findet man den Musiker Peter Gabriel,
Charles Fleischer von der ehemaligen Monthy-Python-Truppe und Kai Krause
von der Firma Metatools. Im Herbst will man Eröffnung feiern.
[G D]