Etwas verwirrt sehe ich mich um - ich bin durch einen dunklen U-Bahntunnel
getappt und finde ich mich ploetzlich in einer Kathedrale wieder, wo ein
Druidenmaedchen, ein Gespenst und ein Daemon gerade um ihren toten Freund
trauern. Besser nicht stoeren, also gehe ich auf den Marktplatz. Dort lerne
ich einen Engel kennen, der aus dem fernen Regensburg angereist ist und der
eine Vorliebe fuer Halluzinogene zu haben scheint. Er zeigt mir, wo ich das
Amselei finden kann, das der Quacksalber Dr. Salbe so verzweifelt sucht.
Unterwegs kommen wir an einem Pharao vorbei, dessen Saenfte von 200 Sklaven
getragen wird, und nehmen Reiaus vor einer Horde umherstreifender Orks. Als
ich dem Quacksalber sein Ei mitbringe, schenkt er mir zum Dank eine
Kaffeeklatsche, ein unentbehrliches Geraet, das es mir erlaubt, mit allen
anderen Bewohnern dieser seltsamen Welt aufs herzhafteste zu "labern". Mein
Begleiter "pflueckt spontan einige Blumen und wirft sie mir herzlich
gratulierend ueber den Kopf. So albern koennen auch nur Maenner sein." Spaeter
lasse ich mich noch von einem Gott auf einen Kebap in die Doener-Bude
einladen, die er frisch erschaffen hat. Leider habe ich nicht rechtzeitig
"Nein Danke" gesagt, als Hassan, der freundliche Doenerverkaeufer mich
fragte: "Mit Soe?" So ist der knoblauchtriefende Imbi fuer mich als Vampir
ungeniebar...
Irgendwann schaue ich auf, reibe mir die geroeteten Augen und stelle fest,
da der Computerraum der ZEDAT in Dahlem bald zu macht, und da ich vier
Stunden ununterbrochen mit pochendem Herzen vor dem Monitor gesessen habe.
Ich bin ihr erlegen, der legendaeren Suchtwirkung der MUDs...
MUD - Abkuerzung fuer Multiple User Dungeon, "Verlies fuer mehrere Benutzer" -
das ist der Oberbegriff fuer virtuelle Welten, die sich auf
Universitaetsrechnern in der ganzen Welt eingenistet haben, meist erschaffen
von kreativen Informatikstudenten. Ein MUD ist ein Computerspiel, das nur
aus Texten besteht. Wie bei den Urahnen der heutigen "Adventure"-Spiele
betritt man einen Raum, indem man "gehe nach Norden" eingibt und daraufhin
einen Text angezeigt bekommt, was dort im Norden alles zu sehen ist an
Gegenstaenden und Leuten, z.B. "Du befindest dich in einer Hoehle. Du siehst
einen Drachen, der fauchend auf dich zugeflogen kommt. Eumel, das lustige
Erdferkel ist hier." Meistens geht es darum, Raetsel zu loesen und sich mit
Monstern herumzuschlagen, um immer mehr Erfahrungspunkte zu sammeln und
seinen Charakter, die Rolle die man spielt, immer besser auszuruesten und
weiter zu entwickeln.
Der eigentliche Reiz dieser Spiele liegt aber anderswo. Der Mudder ist nicht
alleine unterwegs, sondern tummelt sich via Internet mit bis zu hundert
anderen Studierenden aus allen Erdteilen in den phantastischen Welten, die
vor dem geistigen Auge entstehen, waehrend auf dem Bildschirm die Textzeilen
vorbeirasen. Jeder spielt dabei eine bestimmte Rolle, ob man sich als Hobbit
versucht oder als Zombie, ob man gut oder boese, maennlich oder weiblich ist,
entscheidet allein die Phantasie des Spielers. Wenn zwei Spieler in den
selben Raum kommen, koennen sie sich miteinander unterhalten, sich
gegenseitig die Haare durchwuscheln, oder aber sich bekaempfen.
Im MUD haben Leute, die es schwer haben, zu anderen Kontakt zu finden (was
an den heutigen Massenuniversitaeten ja fast schon die Regel ist) die
Chance, spielerisch verschiedene Rollen auszuprobieren, verschiedene
Formen der zwischenmenschlichen Kommunikation kennenzulernen. Mancher
schoepft aus diesen Erfahrungen das Selbstbewutsein, auch im "RL", im
richtigen Leben, offener auf die anderen zuzugehen. Manchmal entstehen aus
den Treffen in der virtuellen Realitaet Kontakte, aus denen reale
Freundschaften oder gar Liebesbeziehungen werden - sogar eine Ehe soll sich
auf diese Weise schon angebahnt haben, wenn auch mit Hindernissen, da sich
bei dem ersten RL-Treffen von Sita aus den U.S.A. und Ovlor aus Deutschland
herausstellte, da die College-Studentin im richtigen Leben stark
uebergewichtig ist.
Wo es Chancen gibt, gibt es auch Gefahren - leider schaffen es viele Mudder
nicht, genuegend Distanz zu bewahren und nehmen das Spiel zu ernst. Die
Folge: immer mehr Spieler bekennen, da sie richtiggehend MUD-suechtig sind,
da sie einen Kontrollverlust erlitten haben und kaum noch andere Interessen
kennen, als taeglich den Zwerg oder Vampir zu spielen. Aus diesem Grund gibt
es bei "Unitopia" [http://UNItopia.uni-stuttgart.de], einem der beliebtesten
deutschsprachigen MUDs, bereits eine Suchthilfe.
Wenn man sich die rasante Entwicklung der Computertechnologie vor Augen
haelt, bei der sich die Rechenleistung jaehrlich fast verdoppelt, und sich
einen kuenftigen MUD vorstellt, der nicht aus Texten, sondern aus
dreidimensionalen Grafiken besteht, hat man eine ungefaehre Vorstellung von
der Droge der Zukunft - eine schoene neue, digitale Welt.