UNItopia News: Brett Smalltalk, Gruppe Maerchen, Artikel 121

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Titel: Das Maedchen, das anders war
Artikel: 121                                           Bezug: 0
Verfasser: Nicki                                       Datum: 08.06.99 14:30:17
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"Sie denkt anders, als wir", sagten ihre Brueder. "Sie fuehlt anders", ihre
Schwestern und ihre Eltern meinten: "Ja, irgendwie ist sie anders als die
anderen." und sie machten sich hin und wieder Sorgen.

Nicht etwa, weil sie fauler oder frecher war als die anderen Kinder, und schon
gar nicht, weil sie gar verbotene Dinge tat, nein, darin war sie nicht anders.
Nur sagte sie manchmal "nein", wenn alle anderen "ja" riefen, oder sie spielte
mit denen, die sonst keinen zum Spielen haben, was viele fuer sehr unangemessen
hielten. Auch sagte sie manchmal "ich hab' dich lieb" zu Leuten, die sie gern
hatte, und das gerade fanden einige gar nicht gut, weil "ich hab' dich lieb"
schon lange keiner mehr zu ihnen gesagt hatte. So konnten sie es nicht lassen,
sich ueber das Maedchen lustig zu machen und sich bedeutungsvolle Blicke in
ihrer Gegenwart zuzuwerfen, denn die Liebe zur Wahrheit habe ja bekanntlich
ihre Grenzen, meinten sie.

Es zogen die Jahre ins Land, und ihre Brueder und Schwestern heirateten. Auch
sie selbst fand einen lieben Mann und lebte mit ihren Kindern nicht weit von
ihnen entfernt, aber doch weit genug, dass sie den Spott der anderen ertragen
konnte. Da kamen eines Tages andere Herren ins Land, die befahlen den Leuten,
ihre Blumen und alle bluehenden Baeume zu zerstoeren, weil deren Schoeneheit
jedermann von der Arbeit abhalte und deswegen in Zukunft verboten sei. Andere
ordneten an, alle Voegel zu fangen, denn wer auf den Gesang lauscht, wird auf
die Dauer ein Traeumer und zur Arbeit kaum zu gebrauchen sein.

Und weil das Maedchen, das anders war, "nein" sagte zu den Maennern und ihren
Vorschriften, baute man um ihr Haus und ihren Garten eine ziemlich hohe Mauer
mit nur einem ganz winzigen Eingang, denn schliesslich seien sie ja keine
Unmenschen, wie sie unaufhoerlich beteuerten, und wollten fuer alle nur das
Beste. Da muesse man sich eben schuetzen vor solchen, die anders seien. Sie
verboten den Leuten dann noch, Vorraete anzulegen und die Frucht ihrer Arbeit
zu geniessen, denn dies sei ein Laster und wuerde sie nur faul und traege
machen und vom rechten Wege abbringen. Zuerst waren alle begeistert, denn
endlich wusste offenbar jemand, was zu tun sei, und der Arbeitseifer war gross.
Aber dann nach einer gar nicht so langen Zeit klopfte es an die kleine Tuer in
der Mauer und ein Kind betrat den Garten des Maedchens, das anders war, atmete
tief die klare Luft, genoss den Gesang der Voegel und trank die Farbenpracht
der Blueten. "Wie schoen du es hast", sagte es. "Wir haben ja alles zerstoert."
Und als es sich traurig zum Gehen anschickte, gab ihm das Maedchen eine von den
bunten Blumen mit auf den Weg.

Da kamen in den naechsten Tagen noch mehr, die alle einmal wieder das Singen
der Voegel und die Blumenpracht erleben wollten. Jedem schenkte das Maedchen
eine Blume. "Nun hast du ja gar keine mehr!", sagte der alte Mann, dem sie die
letzte geschenkt hatte. "Sie wachsen doch wieder nach", lachte das Maedchen.

Er ging mit schwerfaelligen Schritten zur kleinen Tuer, drehte sich noch einmal
um und fragte: "Warum tust du das?"
"Weil ich euch liebhabe!", sagte das Maedchen, das anders war.

Ist zwar leider nicht von mir - aber fuer die, die ich liebhabe... also DICH.
Nicki.