UNItopia News: Brett Smalltalk, Gruppe Maerchen, Artikel 119

-------------------------------------------------------------------------------
Titel: Kurze Liebe
Artikel: 119                                           Bezug: 0
Verfasser: Mammi                                       Datum: 09.11.98 10:38:22
-------------------------------------------------------------------------------
Es lebten ein Mann und eine Frau, die hatten sich sehr lieb. Doch der Mann
starb. Da beweinte und beklagte ihn seine Frau so sehr, so sehr, dass es
kein Ende nahm. Wo man ihn begraben hatte, dort stand auf dem Friedhof eine
Kapelle. Die Frau ging in die Kapelle, beweinte ihn, und betete fuer ihn
die ganze Nacht. Sie klagte und trauerte so um ihn, dass sie nicht einmal 
mehr leben mochte. So weinte sie zwei Naechte lang um ihn. Auch in der 
dritten Nacht beklagte sie ihn wieder in der Kapelle.
In jener Stadt verurteilte das Gericht - wofuer, weiss ich nicht - einen
Mann zum Tode und liess ihn haengen. man haengte ihn in der Naehe des
Friedhofs. Und es gab ein Gesetz, dass der Gehaengte dort drei Tage lang
haengen muesse. Waehrend dieser Zeit stand bei ihm eine Wache.
Als nun jene Frau die dritte Nacht in der Kapelle kniete, da stand 
ein Soldat bei dem Gehaengten Wache. Und es zogen schwarze Wolken auf.
Es regnete und donnerte. Da dachte der Soldat: "Was werde ich hier im
Regen stehen. Der Gehaengte wird schon nicht davonlaufen." Und leise 
machte er sich davon und ging in die Kapelle - wenn es nur nicht mehr
regnet, dann ist es schon gut.
Der Soldat stand in der Kapelle, und als das Gewitter aufhoerte und es 
nicht mehr donnerte, dahoerte er, dass jemand raschelt und fluestert.
Er hoerte genau hin, zuendete ein Streichholz an und sah nach, wer dort
fluestert. Da sah er, dass da eine Frau ist. Er geht zu ihr hin und fragt
sie, weshalb sie weint. Die Frau sagte, dass sie ihren Mann beweint. Da
troestet sie der Soldat, troestet sie, bis sie zu weinen aufhoerte. Nun
spricht er zu ihr, spricht zu ihr und nun will sie ihn heiraten. Der 
Soldat spricht mit ihr, und zwischendurch geht er immer wieder raus, um 
nach dem Gehaengten zu sehen.
"Na, wer wird den wegnehmen", sagt sie. "Du brauchst nicht zu gehen, 
noch sonst irgend etwas zu machen."
"Ich bin fuer ihn verantwortlich", sagte der Soldat, "deshalb muss ich mich
auch um ihn kuemmern." Er aber dachte bei sich, er muesse sehen, welcher 
Art ihre Liebe sei. 'So sehr hat sie ihren Mann geliebt, und nun will 
sie mich heiraten!' Er wird schon sehen, was weiter wird.
Als der Soldat zum wiederholten Male rausging, um nach dem Gehaengten zu
sehen, nahm er ihn aus der Schlinge und legte ihn beim Friedhof nieder.
Dann ging er in die Kapelle und sagt zu ihr: "Mir ist ein Unglueck passiert.
Jemand hat den Gehaengten gestohlen. Jetzt wird man mich dafuer haengen."
"Ach geh", sagt sie, "mein Mann liegt zwei Tage in der Erde. Den graben
wir wieder aus und haengen ihn auf - niemand wird es merken."
Na, und so machten sie es dann auch. Sie gruben ihren Mann aus - 
irgendwoher haben sie einen Spaten genommen - und haengten ihn anstelle
des Gehaengten an den Galgen.
Da sagte der Soldate: "Trotzdem geht es nicht. Dem Gehaengten haben zwei
Vorderzaehne gefehlt. Und der hier hat sie." Da nahm sie einen Stein und
schlug ihrem Mann die Zaehne aus.
Da sagte der Soldat zu ihr: "Siehst du, Frauchen, so sehr hast du deinen
Mann geliebt, und jetzt, wo er tot ist, schlaegst du ihm die Zaehne aus.
Mir wirst du aber die Zaehne wohl noch zu Lebzeiten ausschlagen. Also lebe
du ohne mich, ich lebe lieber - ohne dich."

(ein litauisches Maerchen)